GENESUNG IM NAMEN DES VOLKES : Was aneckt, muss weg
VON ELISE GRATON
Glieder- und Kopfschmerzen, aber kein Fieber. Komische Grippe, die nicht so richtig ausbrechen will. Ich schleppe mich hin und her, halb gesund, halb krank, schlecht gelaunt und in ständiger Angst, es könnte mich jeden Moment dahinraffen. Eigentlich bin ich fast schon so weit, dass ich es mir wünsche. Seit über zwei Wochen vegetiere ich schlapp vor mich hin. Das einzig Schöne daran: Man fühlt sich eins mit der Welt. Rückwärts auf der Stelle treten, das ist die Norm. Auf jeden Schritt in Richtung Besserung folgen zwei Schritte zurück ins Übel, so wie jegliches Streben nach Aufgeschlossenheit und Neugierde immer von einem Sog in Richtung Konformismus und Konservatismus begleitet zu werden scheint.
Vor einiger Zeit erhielt eine Bekannte von mir, die Künstlerin John Deneuve, aus heiterem Himmel Morddrohungen. Bereits seit 2012 läuft auf der Arte-Creative-Internetplattform des Senders ihre Filmreihe „Éducation sexuelle“ – bisher ohne große Resonanz. Im Stile nostalgischer Aufklärungsfilmchen erklärt sie darin die erogenen Körperzonen der Geschlechter, erläutert mehr oder weniger gebräuchliche/brauchbare Sexualpraktiken, und konterkariert die zunehmende Pornoisierung des Internets mit der naiven Freizügigkeit der 60er Jahre. Zugegeben, die kurzen Animationen sind schräg. Die sachlich-expliziten Texte stammen von Wikipedia und werden von Deneuve mit einer befremdlich infantilen Stimme vorgetragen. Doch die rosaroten Miniaturen, die sich eindeutig an ein erwachsenes Publikum richten, illustrieren die Themen stets harmlos, nie obszön.
Vor Kurzem kamen dann plötzlich Bedenken auf. Eine erste polemische Kritik sah in der Paarung der Materie mit kindlichem Tonfall alle Regeln des guten Geschmackes verletzt und prangerte die Verschwendung öffentlicher Steuergelder an. Der Keim war gesät, innerhalb von wenigen Tagen erwuchs in den Kommentaren der Internetseite daraus der vielstimmige Vorwurf, Arte würde zur Pädophilie aufrufen. Schnell war man sich einig: Der Sender selbst sei durch und durch entartet, eine Bedrohung, nicht zu retten … Arte versuchte, den viralen Infekt zunächst mit einem kindgerechten Kompromiss zu kurieren und sperrte die Filme, sodass sie nur noch zur nächtlichen Stunde zwischen 23 und 5 Uhr abgerufen werden konnten. Das half nichts. Seit ungefähr einer Woche ist die Serie komplett verschwunden.
Alles, was aneckt, nicht gefällt, oder irgendjemanden stören könnte – sofort wegsperren, entfernen, Quarantäne! Auch bei mir stellen sich mittlerweile erste Anzeichen von Fieber ein, also ab ins Bett. Dort finde ich in der französischen Tageszeitung Libération das zum Thema passende Pamphlet „Au nom du ‚vrai public‘, la censure de la culture – Die Zensur der Kultur im Namen des ‚wahren Publikums‘“. Die Autorin, Dramaturgin und Literaturprofessorin Barbara Métais-Chastanier listet darin Institutionen auf, deren Intendanten kaum noch über ihr eigenes Programm entscheiden dürfen. Stattdessen wächst der Druck lokaler Interessenverbände, die sich im Namen des Volkes, als dessen Vertreter sie sich verstehen, gehörig einmischen. Métais-Chastanier stellt fest: „Seit einigen Monaten hört man immer wieder die gleiche Devise: Kunst- und Kulturorte sollen ,volksnah‘ sein und ,dem Geschmack aller‘ dienen – allerdings nicht im Sinne von Regisseuren wie Jean Vilar und Antoine Vitez, die in den 50ern für ein ‚elitäres Theater für alle‘ eintraten.“ Was heute unter „Volksnähe“ verstanden wird, vergleicht Métais-Chastanier mit einem alten Kaugummi, der von Mund zu Mund geht. Ihre Diagnose: Es scheint, als wolle man das Projekt eines emanzipatorischen Kulturauftrags aufgeben – zugunsten einer möglichst schnellen, billigen und konsensfähigen Politik der sozialen Reparatur. Kunst kommt heute also von Bekömmlichkeit.
Mir hat’s gereicht und ich war beim Arzt. Ich habe gar keine Grippe, stellt sich heraus, sondern eine infizierte Zahnwurzel. Und der Zahn muss jetzt raus.
■ Elise Graton ist freie Journalistin und Übersetzerin in Berlin