GEN NORDEN – GEN WESTEN: Zeiten der Abwesenheit
■ Octavio Paz hat die Hälfte seines Lebens außerhalb seines Geburtslandes Mexiko verbracht. Schon als Kind machte er seine erste Erfahrung der Emigration. Später lebte er als Lehrer, Journalist und Diplomat im Ausland. Der Nobelpreisträger für Literatur hat erst seit zwanzig Jahren seinen festen Wohnsitz in der mexikanischen Hauptstadt. Ein Gespräch von Antonio Cano mit OCTAVIO PAZ
„Wie so viele Leute im zwanzigsten Jahrhundert habe ich das Schicksal der Emigranten erlitten und genossen. Als ich ein Kind war, mußte mein Vater Mexiko verlassen. Es war die Zeit der mexikanischen Revolution, und mein Vater, der sich politisch engagiert hatte – er arbeitete mit der Gruppe von La Convencion und mit Emiliano Zapata zusammen –, mußte nach den großen Niederlagen des Südheeres schleunigst aus Mexiko flüchten. Er floh und mußte als persönlicher Vertreter des Generals Zapata in die Vereinigten Staaten gehen. Wir konnten uns erst ein Jahr danach mit ihm treffen. Ich war damals noch ein kleines Kind und kann mich deshalb nur vage erinnern. Wir fuhren mit dem Zug durch das ganze Land. Die Züge fuhren unter starkem Begleitschutz von Soldaten, weil es oft zu Schießereien mit der Guerrilla kam. Manchmal sah man in den verlassenen Bahnhöfen des Nordens an Pfosten baumelnde Gehenkte mit heraushängender Zunge. Für mich war das eine unauslöschliche Erinnerung, eine mehr als eine Woche währende furchtbare Reise von Mexico City bis zur Grenze, wo uns mein Vater erwartete. Von dort ging es nach Los Angeles, wo wir zwei Jahre lebten.
So mußte ich von Kind an ein Flüchtlingsschicksal erleben, eine andere Sprache erlernen und mich mit Kindern auseinandersetzen, die anders waren als ich. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Tag in einer nordamerikanischen Schule. Wie dort üblich , gab es Mittagessen. Ich verlangte einen Löffel, und ich verlangte ihn auf spanisch, weil es die einzige Sprache war, die ich beherrschte. Man kann sich nicht vorstellen, in welches Gelächter die anderen Kinder ausbrachen. Beim Ausgang, in einem jener trostlosen Hinterhöfe der nordamerikanischen Grundschulen, lauerten sie mir auf, und ich mußte meine erste Schlägerei bestehen. Unter dem Schrei „spoon, spoon“ versetzten sie mir ein paar fürchterliche Ohrfeigen. Drei Jahre später kehrte ich nach Mexiko zurück, ging zur Schule und wurde wieder mißhandelt, weil ich schon wieder ein verfluchter Ausländer war, diesmal ein Gringo. So habe ich doppelt gelitten, wie alle Emigranten, die in ihrem Gastland Ausländer sind und es in ihrem eigenen Land bleiben. Damit wird das ursprüngliche Nomadenleben des Menschen neu aufgelegt.
Der Mensch war zuallererst Nomade. Er wurde erst sehr spät, vor kaum vier- oder fünftausend Jahren, mit der Entwicklung der Landwirtschaft seßhaft. Dies hat wie kräftige Winde die Oberfläche der Erde verändert, aber auch wie tiefe Meeresströmungen die Wasserschichten durcheinandergewirbelt. Meiner Ansicht nach sind die großen Veränderungen der Geschichte nicht nur ökonomischer, wissenschaftlicher, ideologischer oder religiöser Art; am wichtigsten ist und bleibt die Demographie, die großen Völkerwanderungen. Man darf die großen Migrationen am Ende des Römischen Reiches nicht vergessen.“
Geht es Ihnen nicht auch so, daß Ihnen bei dem Wort Amerika sofort das Wort Emigrant einfällt?
„In Amerika sind wir uns dessen sehr bewußt, weil alle Amerikaner Emigranten sind; keiner stammt von hier. Zuerst kamen die Indianer hierher, wahrscheinlich aus Asien, und zogen jahrtausendelang ohne Pferde von Alaska bis nach Feuerland. Das waren ganz außerordentliche Wanderungen. In Mexiko zeigen die Monumente der ersten Einwohner Fußabdrücke, die auf Migrationen hindeuten.
Im modernen Mexiko gibt es zweierlei Wanderungsbewegungen: Die Auswanderer, die aus Mittelamerika kommen, sei es aus politischen Gründen, aufgrund der Übervölkerung, sei es, weil sie Mexiko als Durchgangsland benutzen wollen. Diese Emigration verändert Mexiko nicht wesentlich; es ist dieselbe Rasse, dieselbe Kultur, dasselbe Volk. Im Norden ist das allerdings anders; da prallen unterschiedliche Kulturen zusammen. Diese Erfahrung haben auch die Europäer gemacht. Die Geschichte Europas ist die Geschichte der Zusammenstöße vieler unterschiedlicher Völker, vieler unterschiedlicher Gesellschaften, vieler unterschiedlicher Kulturen.“
In Amerika hat sich diese Erfahrung in kleinerem Maßstab wiederholt, vor allem zwischen Mexiko und den USA. Was kennzeichnet die Migration zwischen Mexiko und Nordamerika am meisten?
„Der ganze Süden der Vereinigten Staaten gehörte einmal zu Mexiko. Wenn man sich fragt, warum er heute nicht mehr mexikanisch ist, stellt man fest, daß die übliche Erklärung – die imperialistische Expansion der Vereinigten Staaten – nur die halbe Wahrheit ist. Die tiefere Wahrheit liegt darin, daß der ganze einstige Norden Mexikos gar nicht oder nur gering besiedelt war, zuerst durch Spanier, dann durch Mexikaner. Es waren kaum bewohnte Gebiete, mit Ausnahme von nomadisierenden Indianerstämmen, die zuerst von den Spaniern, später von Mexikanern und Nordamerikanern bekämpft wurden. Die geringe Bevölkerungsdichte, die unvollkommene Besiedlung des Nordens machte die große Expansion der Vereinigten Staaten nach Süden erst möglich. Man kann das nicht ausschließlich als imperialistischen Angriff, als kriegerische Invasion vestehen; es gab einen Krieg, aber es gab ihn , weil keine wirkliche Kolonisierung stattgefunden hatte; andernfalls wäre es gar nicht zum Krieg gekommen.
Jetzt spielt sich dieses Phänomen – die Geschichte geht seltsame Wege – umgekehrt ab. Heute suchen die Mexikaner wegen ihres starken Bevölkerungswachstums und ihrer ökonomischen Unsicherheit Arbeit in den Vereinigten Staaten. Das erzeugt eine riesige Auswanderungswelle, niemand weiß genau, in welcher Größenordnung; sie scheint bei einer Million Migranten im Jahr zu liegen. Freilich hat die Migration heute einen anderen Charakter als früher. Die Mexikaner stoßen heute auf ein schon besetztes Land. Außerdem betreten sie es nicht von oben, sondern von unten; sie kommen wie die tiefen Meeresströmungen und nicht wie der Wind.“
Welche Ausmaße kann diese Auswanderung annehmen?
„Niemand kann sie aufhalten. Man könnte sie allenfalls kontrollieren, aber sie ist nicht zu stoppen; so wenig wie die Europäer die Emigration aus dem Norden Afrikas aufhalten können. Sie läßt sich aus zwei Gründen nicht stoppen: erstens, weil sie sich dem Zugriff des Menschen entzieht. Sie wäre nur durch schreckliche Menschenrechtsverletzungen aufzuhalten, indem man das Recht zu reisen drastisch einschränkte. Aber davon abgesehen sind sogar die Opfer der Emigration nicht Opfer, sondern Nutznießer. Die Europäer brauchen die Arbeitskraft der Araber und die Nordamerikaner die der Mexikaner. Ich glaube, das einzige, was man tun kann, ist Formen des Zusammenlebens zu suchen. Im Fall von Mexiko wäre das erste, was man für eine langfristige Lösung tun müßte, die Geburtenkontrolle.
Das Problem des Bevölkerungswachstums ist eines der großen Geheimnisse der Menschen. Wir wissen nicht genau, warum es Zeiten großer Fruchtbarkeit und Zeiten geringerer Fruchtbarkeit gibt. Zum Beispiel hatten die Spanier, die nach Mexiko kamen, hier im 16., 17. und 18.Jahrhundert mehr Kinder als in Spanien. Es mag dafür soziale Gründe geben – das Leben war hier leichter und die Moral weniger streng –, aber das erklärt nicht alles.
Wie auch immer, Geburtenkontrolle ist eine Lösung auf lange Sicht. Die althergebrachte Lösung war Rassenmischung. Das mag es geben, aber das wesentliche ist die Suche nach Formen des Zusammenlebens zwischen verschiedenen Gruppen. Die Vereinigten Staaten sind ein recht bemerkenswertes Experiment in multirassischer Demokratie. Es gibt zwei große Länder, die das Problem der Vielfalt von Völkern, Ethnien und Sprachen gelöst haben: Indien mit Hilfe des Kastensystems, aber diesen Weg können wir im 20.Jahrhundert nicht akzeptieren. Die andere Lösung ist der Schmelztiegel, aber auch sie ist schwierig weil sie Ähnlichkeiten und eine Reihe anderer Bedingungen voraussetzt, die nicht immer gegeben sind. Das ist eine der großen Herausforderungen des 21.Jahrhunderts.“
Welche Risiken birgt die Emigration für die Identität Mexikos und vielleicht auch für die der Vereinigten Staaten?
„Ich glaube, für Mexiko besteht keine Gefahr. Gefahr besteht vielmehr für die Vereinigten Staaten, aber ich glaube auch nicht, daß diese Gefahr real ist. Die heutige Weltpolitik und auch die Weltwirtschaft haben die Idee des Nationalstaats in eine Krise geführt. Heute wissen wir, daß der Nationalstaat für manches zu klein ist, zum Beispiel für die Bekämpfung der Probleme der Weltwirtschaft, und für anderes wieder zu groß, wie für die Bewältigung regionaler Probleme oder diverser Nationalismen. Aber abgesehen davon stellen die Migrationen nicht so sehr den Staat als vielmehr das Konzept der Nation selbst in Frage. Der Druck verschiedener Sprachen und verschiedener Kulturen zeigt erneut, daß die Herausforderung Zusammenleben heißt. Das wird sehr schwierig sein. Das wird die modernen Gesellschaften auf die Probe stellen. Aber wenn wir keine Lösung für das Zusammenleben zwischen verschiedenen Nationen finden, bleiben als Alternative nur blutige Kämpfe.
Ich bin überzeugt, daß unser Schicksal und das der Vereinigten Staaten durch die Geographie und die Geschichte miteinander verknüpft sind. Ich bin immer ein Anhänger der Integration gewesen, und in meinem Buch Kleine Chronik der Großen Tage behaupte ich, lange bevor vom Freihandelsvertrag die Rede war, daß der Einfluß der Vereinigten Staaten an der Schwelle zum 21.Jahrhundert sich den Realitäten stellen muß, vor allem in ökonomischer Hinsicht; und daß somit die Lösung für die Vereinigten Staaten, aber auch für Mexiko und Kanada eine Gemeinschaft ist. Eine Gemeinschaft auf wirtschaftlicher Ebene, trotz der Ungleichgewichte zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten – sie sind nicht größer als die zwischen Deutschland und Griechenland –, und auf kultureller Ebene. Ich glaube, das ist die einzige Lösung sowohl für Mexiko als auch für die Vereinigten Staaten.“
Wie haben Sie als Schriftsteller die Emigration erlebt?
„Das große Problem ist die Sprache. Wir spanischsprachigen Autoren haben den Vorteil, daß wir fast in die halbe Welt auswandern können, aber selbst wenn man Gefahr läuft, die eigene Sprache zu verlieren ... In einigen Fällen ist das sogar zum Vorteil ausgeschlagen, zum Beispiel bei Nabokov oder Joseph Conrad, die die Sprache wechselten. Juan Ramón Jimenez klagte darüber, daß die Namen der Bäume in den Vereinigten Staaten anders lauteten, aber ich finde es im Gegenteil wunderbar, daß dieselben Objekte verschiedene Namen haben. Das erscheint mir sogar als poetisches Thema. Ich habe nichts dagegen.
Wir Schriftsteller sind manchmal aus freien Stücken emigriert. Ich habe mein halbes Leben außerhalb von Mexiko verbracht, dabei als Lehrer, Journalist und Diplomat gearbeitet. Ich verließ Mexiko 1943 und kam erst 1970 endgültig zurück, und trotzdem habe ich viel über Mexiko geschrieben, weil Mexiko sich in eine Leidenschaft, eine doppelte Leidenschaft verwandelte, voller Streit und Polemik, aber sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Zeiten der Abwesenheit. Cervantes, unser großes Vorbild, ist gereist. Die Spanier sind viel gereist; als sie aufhörten zu reisen, schrieben sie nicht mehr so gut.“
Octavio Paz wurde 1914 in Mexiko geboren. Kreolisch-indianischer Abstammung publizierte er nach abgebrochenem Studium Literaturzeitschriften und Gedichte. Sechs Jahre diente er als Botschafter Mexikos in Neu-Delhi. 1990 erhielt der Essayist und Lyriker den Literatur-Nobelpreis.
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