piwik no script img

Archiv-Artikel

GEHT’S NOCH? Wessi-Peer gegen Zonen-Angie

AM LANGWEILIGEN WAHLKAMPF SIND NICHT NUR DIE POLITIKER SCHULD: DIE DEUTSCHE ÖFFENTLICHKEIT IST EINE MIMOSE

Die Ostdeutschen sind beleidigt worden! Es hat eine „bodenlose Entgleisung“ gegeben, „eine Brüskierung der ehemaligen DDR-Bürger“! So sehen es der Linkspartei-Chef und der CDU-Ost-Beauftragte der Bundesregierung (ja, so was gibt es noch).

Hat wer die Ostbürger wie in den 1990ern als Stasizuträger verdächtigt, ihnen Faulenzerei vorgeworfen, Undank für die schön renovierten Innenstädte in Görlitz etc.? Ist Wolf Biermann mal wieder wach geworden? Nein. Peer Steinbrück hat gesprochen. Über Angela Merkel. Der Kanzlerin falle es schwer, eine zündende Europarede zu halten, weil sie aus dem Osten komme. Merkel stehe „das Projekt Europa ferner als einem in Westdeutschland sozialisierten Politiker“.

Klar, das klingt grob geschnitzt. Europa ist ja nicht nur Benelux, sondern Warschau, Prag, Budapest, wo 1990 die alten Herrscher abgeschüttelt wurden. Was verwundert ist, warum Politiker nicht mehr über biografisch-politische Prägungen reden dürfen.Warum gleich hyperventilierte Aufregung und kollektives Übelnehmen?

Bestimmt haben viele DDR-Bürger eher von Paris als von Sofia geträumt. Aber das ändert nichts daran, dass die EU für die DDR etwas anderes war als für die Bundesrepublik. Im Westen spielte die EU nach 1949 die Rolle eines Bewährungshelfers, dem man gern, wenn er knapp bei Kasse war, mit ein paar D-Mark aushalf. Für die Generation Kohl war eingraviert, dass man in Paris verstanden werden musste. Schröder (das hat Steinbrück weggelassen) hatte schon ein wurschtigeres Verhältnis zu Europa.

So wie Merkel. Erst wollte sie Griechenland lieber bankrott gehen lassen, dann folgte unvermittelt die Losung, dass Europa ohne Euro untergehe. Später versicherte sie, dass es solange sie lebe keine Eurobonds geben werde. Merkels Europolitik – das sind Pathosformeln ohne Begründungen plus ein kaltes Diktat für den Süden. Ist es abwegig, darin einen Mangel an affektiver Bindung zu vermuten, die auch in ihrer Biografie wurzelt?

Wenn es schon verboten ist, zu erwähnen, dass Merkel aus der DDR kommt, dann steht uns ein Wahlkampf mit lauter No-go-Zonen bevor. Alle jammern über den langweiligen Wahlkampf. Und rufen bei der ersten Attacke „unfair“. Ziemlich deutsch.

STEFAN REINECKE