piwik no script img

Archiv-Artikel

GEHT’S NOCH Lagerwahlkampf

DIE KANZLERIN BESUCHT DIE KZ-GEDENKSTÄTTE DACHAU – UND GEHT ANSCHLIESSEND INS BIERZELT. DARF SIE DAS? SIE SOLL

Was muss eine Bundeskanzlerin tun, nachdem sie ein KZ besucht hat? Einen Veggieday einlegen? Belgrad bombardieren? Was darf sie keinesfalls tun? In einem Bierzelt auftreten? Eine Currywurst essen?

Renate Künast von den Grünen wie auch der Historiker Wofgang Benz waren zumindest schlecht beraten, als sie den Besuch Angela Merkels im Lager Dachau vom vergangenen Dienstag kritisierten. Ist es tatsächlich eine „geschmacklose und unmögliche Kombination“ (Künast) oder wirkt es „beiläufig“ (Benz), erst der Opfer deutschen Verbrechertums zu gedenken und dann eine Wahlkampfveranstaltung zu machen? Ist ein Wahlkampf jetzt, immer noch oder per se etwas Schmutziges? Und die Tatsache, dass erstmals eine deutsche Bundeskanzlerin den Toten und den Überlebenden von Dachau vor Ort ihre Reverenz erweist, etwas, das besser gar nicht stattgefunden hätte?

Nein, Merkel hat es genau richtig gemacht, als sie die Einladung des Vorsitzenden der Lagergemeinschaft Dachau, Max Mannheimer, spontan angenommen und in ihren Terminkalender integriert hat. Das Gedenken an die Nazidikatur und den Holocaust ist eben nichts mehr, was zu unserem Leben nicht dazugehören dürfte. Es ist nicht mehr so, wie es Maxim Biller in seinem Buch „Der gebrauchte Jude“ für die 1980er Jahre beschrieb, als Juden in Deutschland „jedes Jahr kurz im Fernsehen erschienen, als kleine, dunkle Menschengruppe vor einer riesigen Menora oder einer dramatisch hoch aufgehängten Schiefertafel mit kaum lesbaren hebräischen Buchstaben. Es regnete und war windig, und sie hielten sich an ihren Regenschirmen fest, und dann wurden sie weggeweht und tauchten erst am nächsten 9. November für dreißig Sekunden wieder in den Nachrichten auf.“

An die Opfer zu erinnern, ist aber auch nichts, womit man in Deutschland Wahlen gewinnt. Ob Gerhard Schröder und die Bundeskanzler vor ihm deswegen von einem Besuch in Dachau absahen? Das wäre eine Unterstellung. So wie die, dass Künast mit ihrer Kritik an Merkel Wahlkampf machte. Und falls sie es doch getan hat: An Künast als Wahlkämpferin hat man gerade in Berlin keine guten Erinnerungen – was umso bedauerlicher ist, als die Stadt den dringend nötigen Politikwechsel verpasste. AMBROS WAIBEL