GASTKOMMENTAR: Konsens statt Konfrontation
■ Im High-Tech-Zeitalter kann man Parlament (Berlin) und Regierung (Bonn) trennen
Die Frage des Regierungs- und Parlamentssitzes der Bundesrepublik Deutschland ist mit einer Vielzahl wichtiger Probleme verbunden, die es nicht erlauben, eine alternativ-radikale Entscheidungssituation — entweder für Bonn oder für Berlin — herbeizuführen und damit entweder Bonn oder Berlin einen politischen K.o.-Schlag zu versetzen.
Im Einigungsvertrag wurde festgelegt, daß Berlin die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist. Nicht nur meine Partei hat sich über vierzig Jahre lang zu diesem Ziel bekannt. Deshalb kann es jetzt nicht angehen, Berlin mit einigen repräsentativen Funktionen, Außenstellen von Bundesministerien und so weiter abzuspeisen. Auf der anderen Seite geht es um die Existenzgrundlagen von über einhunderttausend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie ihren Familien in Bonn und Berlin, um die immensen Kosten, die ein Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin verursachen würde, sowie raumordnungspolitische und wohnungsbaupolitische Konsequenzen für den gesamten Berliner Raum, in dem 170.000 Wohnungen fehlen und der bereits heute verkehrsmäßig überlastet ist.
Deshalb halte ich es für unvertretbar, mit einer Kampfabstimmung im Deutschen Bundestag, bei der knappste Mehrheiten abzusehen sind, über diese Fragen hinwegzugehen, ohne den Versuch zu unternehmen, einen Ausgleich zu schaffen, der die von mir eben genannten Probleme in die Entscheidung mit einbezieht. Die von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingesetzte Berlin-Bonn-Kommission hat daher den Vorschlag unterbreitet, daß der Deutsche Bundestag, der Bundespräsident, der Bundesrat und die Bundesversammlung ihren Sitz in Berlin nehmen, die Bundesregierung aber in Bonn verbleibt.
Mit dieser Lösung könnte der Hauptstadtanspruch Berlins mit Leben erfüllt werden. Der Deutsche Bundestag ist das oberste Verfassungsorgan, gewählt vom obersten Souverän, nämlich dem Volk. Mit dem Verbleib der Bundesregierung in Bonn könnte auch sichergestellt werden, daß die Kosten in einem vertretbaren Rahmen bleiben, der größte Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesbehörden in Bonn und Berlin Zukunftsgewißheit hätte und daß die raumordnungs- und wohnungsbaupolitischen Probleme in Berlin nicht weiter eskalieren.
Es bleibt die Frage, ob eine solche Lösung auch praktikabel ist. Die Bundesregierung und die Bundestagsverwaltung haben dies in Stellungnahmen bestätigt, die wie der Vorschlag der CDU/CSU- Fraktion davon ausgehen, daß die räumliche, personelle und sachliche Ausstattung des Deutschen Bundestages einschließlich modernster Kommunikationsmittel wesentlich verbessert sowie leistungsstarke Ost-West-Verkehrsverbindungen geschaffen werden müssen. Bis zum Jahre 2000 — und um diese Zeitschiene handelt es sich — ist dies ohne Probleme möglich.
Gute Argumente, weshalb eine Trennung von Regierungs- und Parlamentssitz nicht funktionieren könnte, habe ich noch nicht gehört. Der Bundestag nimmt seine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung schließlich nicht dadurch wahr, daß die Abgeordneten durch die Flure der Ministerien laufen und die Büros einzelner Beamter inspizieren, sondern die Kontrolle erfolgt zum Beispiel durch die Gesetzgebung, die Aufstellung des Haushaltsplans, Kleine und Große Anfragen, durch den Bundesrechnungshof und, falls notwendig, durch Untersuchungsausschüsse.
Ein Abgeordneter des US-amerikanischen Repräsentantenhauses aus Los Angeles, dessen Wahlkreis 5.000 km, fünf Flugstunden und drei Zeitzonen — zum Vergleich: zwischen Bonn und Moskau sind es zwei — von seinem Arbeitsplatz in Washington entfernt liegt, könnte über die kommunikations- uns mobilitätspolitischen Bedenkenträger im High-Tech-Land Bundesrepublik nur den Kopf schütteln.
Wir leben schließlich an der Schwelle zum dritten Jahrtausend und nicht in der Saurierzeit. Heiner Geißler
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