GASTKOMMENTAR: Das Dreierpoker beginnt
■ Divergierende Interessen der Hauptakteure gefährden den „Freundschaftsbund“
Ob der Brester „Freundschaftsbund“ am 21.Dezember in Alma Ata um weitere ehemalige Sowjetrepubliken erweitert wird, ob es zu einem gemeinsamen strategischen Oberkommando kommt, das vor allem die Atomwaffen kontrolliert, ist völlig offen. Hinzustoßen wollen bislang Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Armenien, und vielleicht Usbekistan. Aber sie wollen auch als Gründungsmitglieder anerkannt werden. Ein „Beitritt“ deklassiert immer und kommt daher nicht in Frage. Für den Bund spricht die wirtschaftliche, die politische und die militärische Vernunft — falls es so etwas überhaupt gibt. Aber an Vernunft fehlt es immer dann, wenn sie am dringendsten gebraucht wird.
Die drei Hauptakteure werden offenbar von anderen Sorgen geplagt. Boris Jelzin hat den Kampf gegen Gorbatschow gewonnen. Mit seinem hegemonialen Anspruch, die RSFSR als rechtmäßigen und faktischen Nachfolger der UdSSR zu profilieren, weckt er bei anderen jedoch Widerstand. Es ist dabei nicht nur das populistische und sprunghafte Agieren des russischen Präsidenten, das Besorgnis weckt, sondern die schiere Größe des Landes, das er vertritt. Auch ein Bund ohne Zentrum hätte sein Gravitationszentrum in Moskau, selbst wenn die Sitzungsräume der neuen Koordinationsgremien in Minsk eingerichtet werden würden. Der ukraininische Präsident Krawtschuk, zweiter Hauptakteur, der mittels einer nicht weniger populistischen Rhetorik den leidenschaftlichsten ukrainischen Nationalisten den Wind aus den Segeln nimmt, spielt scheinbar in einem anderen Stück. Für ihn war der Bund in Brest weniger ein neuer Zusammenschluß als eine Möglichkeit, das Zentrum zu beseitigen. Neue Zusammenhänge, die an Sowjetisches gemahnen, will er nicht. Es könnte sein, daß er mit seiner Ukraine den eben entstandenen Bund wieder verläßt, weil er zu eng werden könnte. Der dritte Hauptakteur, der offenbar zum Sprecher der nichtslawischen Republiken aufgerückte kasachische Präsident Nasarbajew, erscheint von allen Staatschefs als der klügste und berechenbarste. Er hatte Gorbatschows Plan eines neuen Unionsvertrages so lange unterstützt, wie er eine Realisierungschance zu haben schien. Nun hat er die Atomkarte ausgespielt. Obwohl er wie Krawtschuk prinzipiell für die Beseitigung aller Atomwaffen eingetreten ist, will er sie in Kasachstan solange behalten, bis entweder ein gemeinsames strategisches Oberkommando gebildet wurde oder auch die RSFSR ihre Atomwaffen abgeschafft hat. Die Erfüllung der ersten Forderung würde eine Wiederherstellung zentraler Strukturen bedeuten, die die Ukraine nicht akzeptieren will. Die zweite Forderung impliziert Abrüstungsverhandlungen, wie sie früher zwischen den USA und der UdSSR stattfanden. Das wechselseitige Mißtrauen ist groß geworden. Die düsteren Warnungen Gorbatschows und Schewardnadses können nicht mehr als das Unken abgehalfterter Politiker abgetan werden. Erhard Stölting
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen