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Fußball als sozialer ProzessDer Stürmer wird geopfert

Fußball wandelt sich, das zeigte diese EM: Es wurde offensiver gespielt, schneller. In Löws Elf blieb viel auf Podolski ausgerichtet. Lahm und Ballack mussten dafür den Dreck wegräumen.

Nur kein Neid, Micha. Bild: ap

Die Zeiten haben sich geändert: Es gibt keine Regisseure mehr, keine Spielmacher. Diese EM hat gezeigt: Alle machen alles und das immer schneller. Seit im Raum verteidigt wird, geht es nur noch um die Frage: Wie sind Viererketten zu brechen? Durch die Mitte, über die Flügel? Mit Diagonalpässen, Steilpässen in den Raum zwischen den Innenverteidigern? Der Fußball ist offensiver geworden. Also wurde weniger gefoult, gemeckert, es waren weniger Gehässigkeit und Aggression auf dem Platz.

Offensiv macht mehr Spaß, nicht nur den Zuschauern. Die offensive Ausrichtung einer Mannschaft entwickelt die Fähigkeiten ihrer Spieler. Wer nur verteidigt, verlernt auch das irgendwann. Es wurde noch mehr und schneller gelaufen als während der WM, und noch schneller gespielt. Ein Kontakt, maximal zwei. Stürmer wie Luca Toni, die viel stehen, einen kleinen Aktionsradius haben, sich kaum ins Mittelfeld zurückfallen lassen, selten auf die Flügel ausweichen, die auf den Ball warten, sind ein Problem. Roberto Donadonis Italiener bauten sich, als es darauf ankam, in ihrer Hälfte eine dunkle Höhle, im Licht waren sie blind. Im Raum zwischen Mittellinie und zehn Meter vor dem eigenen Strafraum sind die Azzurri immer noch gut. Sie verschieben nach vorne und zur Seite wie keine andere Mannschaft, halten die Ordnung. Doch die Viererkette des Weltmeisters hielt ohne Innenverteidiger Fabio Cannavaro (Real Madrid) nicht, und eine Offensive, die der Defensivarbeit ihren Sinn gibt, fehlte.

Die Griechen werden ein paar Jahre brauchen, bis sie ihren Trainer Otto Rehhagel verkraftet haben. Es gibt Erfolge, die sind Danaergeschenke. Deutschlands zweiter Platz bei der WM 2002, der EM-Titel der Griechen 2004: "Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes. ("Was immer es ist, ich fürcht die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen.") Die Niederländer wiederum sind der Fluch des Fußballs. Rinus Michels hat mit Ajax Amsterdam in den Sechzigerjahren die Grundpfeiler des Spiels entwickelt, wie es heute international gespielt wird. Die Spieler der Elftal spielen allesamt bei Topclubs - aber bei EM und WM versagen sie regelmäßig.

Frage der Mentalität?

Wie gut muss die niederländische Mannschaft sein, die nach der EM 1988 einen zweiten Titel holt? Eine Partie wie die der Deutschen gegen die Türken hätte die Elftal verloren. Es muss von selbst gehen, leichte Tore müssen fallen, dann flutscht es. Die Niederländer wollen es geschenkt bekommen. Wird es schwierig, dann gibt Wesley Sneijder (Real Madrid) auf, und man ist versucht, die Gründe dafür in den wolkigen Dimensionen der Mentalität zu suchen. Joachim Löw hat, anders als Donadoni, auch als ihm nach der Niederlage gegen Kroatien der Wind ins Gesicht blies, seine Spielauffassung nicht aufgegeben. Alles blieb offensiv, auf Lukas Podolski ausgerichtet. Er soll in eine Schussposition gebracht werden. Dafür zahlen Philipp Lahm und Michael Ballack, die für Podolski den Dreck wegräumen, den Preis.

Eine Ohrfeige für Ottmar Hitzfeld, zwei von ihm auf die Bayern-Ersatzbank gesetzte Spieler, Podolski und Schweinsteiger, spielten eine überragende EM. Jürgen Klinsmanns Aufgabe wird es sein, das, was er bei der Nationalmannschaft schaffte, auch den Bayern beizubringen: offensiver spielen, schneller. Kein Wunder, dass Klinsmann den Stuttgarter Mario Gomez will, obwohl er mit Luca Toni den Torschützenkönig der Bundesliga im Team hat und Gomez bei der EM nicht überzeugt hat.

Bisher kamen die Reformen des Spiels immer von Vereinsmannschaften. Honved Budapest unter Béla Guttmann in den Fünfzigerjahren, Dynamo Kiew in den Siebziger- und Achtzigerjahren unter Waleri Lobanowski, der AC Mailand unter Arrigo Sacchi, Ajax Amsterdam und der FC Barcelona unter Johan Cruyff, in Deutschland der SC Freiburg unter Volker Finke und der SSV Ulm 1846 unter Ralf Rangnick.

Soziale Prozesse

Das war auch beim 4-2-3-1 so. Zwei Sechser als defensive Mittelfeldspieler, zwei offensive Mittelfeldspieler links und rechts, ein zentraler Mittelfeldspieler hinter der einzigen Spitze. Das war die Grundordnung der EM. Vereinsmannschaften - Hannover 96 und der Hamburger SV - spielen schon lange so. Bei Ballbesitz des Gegners bilden die fünf Mittelfeldspieler eine Viererkette mit einem den Ball führenden Gegner attackierenden Indianer. Wie jedes System hat auch dieses Schwächen. Von den äußeren Mittelfeldspielern wird viel verlangt: Rochieren, defensiv arbeiten, Tore schießen. Der Stürmer wird geopfert. Er läuft, bis er platzt, Tore sind nicht mehr seine zentrale Aufgabe. Nicht nur die Rolle des Zehners, auch die des Elfers wurde auf alle verteilt. Manchmal ist es so, dass der Fußball soziale Prozesse vorwegnimmt. Für die deutsche Gesellschaft wäre es gut, sie wäre organisiert wie ihre Nationalmannschaft.

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