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Archiv-Artikel

Fundgrube Friedrich Kieslers fruchtbare Ambivalenz zwischen Komfort und Funktion

Der 1890 in Czernowitz geborene Architekt Friedrich – seit seiner Übersiedlung in die USA 1926 auch Frederick genannte – Kiesler ist eine schillernde Gestalt. Zeit seines Lebens experimentierte er am „Endless House“, das jedoch nie über das Modellstadium hinausgekommen ist. Sein bekanntestes Werk ist der „Schrein des Buches“ in Jerusalem, in dem die Papyrusrollen aus Qumran verwahrt werden. In jüngerer Zeit erregen Kieslers Möbelentwürfe Aufmerksamkeit, denen aus Anlass einer Re-edition des österreichischen Herstellers Wittmann das vorliegende Buch gewidmet ist.

Wie andere Vertreter der modernen Architektur ging Kiesler von einer erweiterten Nutzbarkeit des Möbels aus. „Die verschiedenen Funktionen waren in den grundlegenden Strukturen der ursprünglichen Zelle enthalten“, stellte er 1947 fest, „genauso wie die vielfältigen, spezialisierten Funktionen von Organen bereits im amorphen Embryo des menschlichen Körpers enthalten sind.“

Zunächst experimentierte Kiesler jedoch mit Präsentationsmöbeln, die er für Schaufensterdekorationen so renommierter Häusern wie Saks Fifth Avenue entwarf. Die in den frühen 1930er-Jahren entworfenen Büroeinrichtungen unterschieden sich lediglich durch die Verwendung edler Hölzer und ausgesuchtem Leder von den Stahlrohrmöbeln zeitgenössischer Kollegen. In diese Schaffensperiode fallen auch die „Bed Couch“ und die „Party Lounge“, zwei opulente, frei im Raum stehende Objekte.

Eine unverwechselbare Form erhielten seine Möbel erst mit der Entwicklung einer eigenen Theorie: „Der ‚Correalismus‘ bringt die fortlaufenden Wechselwirkungen zwischen Mensch und seiner natürlichen und technischen Umgebung zum Ausdruck.“ Um dem entsprechen zu können, entwickelt Kiesler für die New Yorker Galerie „Art of This Century“ eine Reihe biomorph geformter Sitzelemente wie das jetzt wieder aufgelegte „Correalistische Instrument“. Je nach Aufstellung kann auf diesem Stuhl leger gelümmelt oder aufrecht gesessen werden, und durch die planen Seitenflächen kann das Element zu einer unendlich langen Bank nebeneinander gestellt werden.

Diese sinnlich erfahrbaren Möbel, denen die abstrakte Formalität der so genannten Klassiker eines Mies van der Rohe oder eines Le Corbusier abgeht, zeigen deutlich einen unabhängigen Ansatz, dem das Bedürfnis nach bequemem Sitzen oder Schlafen zugrunde liegt. Wegen dieser fruchtbaren Ambivalenz zwischen Komfort und Funktion ist Kiesler als Außenseiter der modernen Gestaltung wieder zu entdecken. MICHAEL KASISKE

Friedrich Kiesler, Designer. „Sitzmöbel der 30er und 40er Jahre“. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2005. 128 Seiten, 32 Farbabbildungen, 29,80 €