Für süße Tiere setzt der Mensch sich lieber ein als für nichtsüße Tiere. Vernünftig ist das nicht. Gerecht auch nicht: Ein Herz für Hähne
Fremd und befremdlich
KATRIN SEDDIG
Meine Oma hatte Hühner, die rannten so lange auf dem Hof hinter dem Haus rum, bis sie tot umfielen. Die Hühner meiner Oma waren die einzigen, die ich jemals kennengelernt habe, die an Altersschwäche starben. Es waren auch die einzigen Hühner, die ich kennengelernt habe, die sich wild vermehrten. Deshalb habe ich Glucken auf ihren Nestern gesehen und deshalb habe ich auch Hähne (in der Mehrzahl!) gesehen. Aber auch meine Oma hat diese Hähne irgendwann geschlachtet.
Es schlüpfen etwa gleich viele männliche wie weibliche Hühner, aber es braucht nicht so viele männliche, wie weibliche benötigt werden. Einem Hahn gehören immer ein paar Hühner, oder vielleicht gehört auch der eine Hahn den paar Hühnern, so irgendwie muss es jedenfalls sein – sonst gibt es Ärger auf dem Hühnerhof. Wie die Hühner das in der freien Natur regeln würden, frage ich mich. Vielleicht bringen sich die Männer mehr in Gefahr und auch gegenseitig um, so ähnlich geht das bei Menschen ja auch zu: Männer sind risikobereiter und aggressiver.
In der Geflügelwirtschaft löst man das Problem mit den Hähnen heute durch sofortiges Töten, durch Schreddern oder Vergasen. Das Problem der unnützen Hähnchenküken tritt insbesondere bei solchen Hühnerrassen auf, die auf das Eierlegen hingezüchtet wurden: Deren Hähne setzen nicht genug Fett an, Eier können sie bekanntlich auch nicht legen – werden sie halt gleich vernichtet. So war das bisher: Tiere, die kein Geld einbringen, brauchen auch nicht zu leben.
Wenn man das zynisch findet, dann muss man wirtschaftliche Tierhaltung insgesamt zynisch finden. Nicht mal ein Biobauer würde ja Tiere halten, die ihm kein Geld einbringen; von der Hofkatze oder dem Hofhund vielleicht mal abgesehen. Wenn es jetzt also um das Schreddern oder Vergasen von männlichen, einen Tag alten Küken geht, wenn man sich jetzt vielleicht fragt, ob es nicht ein bisschen gemein ist, so was zu machen: Dann sollte man sich aber auch fragen, ob es weniger gemein ist, ein Masthähnchen ein paar Tage länger leben zu lassen – unter Bedingungen, die diese Hähnchen auch nur gerade so überleben lassen. Und dieses Tier dann erst zu töten.
Sicher, flauschige, gelbe, kleine Küken sind süß. Für süße Tiere setzt der Mensch sich lieber ein als für nichtsüße Tiere. Aber vernünftig ist das nicht. Und gerecht ist das auch nicht. „Geflügelwirtschaft lobt Urteil zur Kükentötung“, heißt es jetzt im Norddeutschen Rundfunk: Denn das Oberverwaltungsgericht in Münster hat festgestellt, das Kükentöten sei rechtens. Natürlich freut das die niedersächsische Geflügelwirtschaft. Für die niedersächsischen Geflügelzüchter wäre es ja glatt eine Katastrophe gewesen, wenn sie die ganzen nutzlosen Hähnchen nicht mehr hätten töten können – dann hätten sie das Kükenzüchten doch gleich ganz aufgeben können und die Küken woanders kaufen müssen.
Christian Meyer, Die Grünen, Minister für Landwirtschaft in Niedersachsen, findet das Urteil aus Münster weniger schön. Er findet es sogar barbarisch. Er baut auf die Geschlechtererkennung bereits im Ei. Wenn das klappt, brauchen die männlichen Eier nicht mehr ausgebrütet zu werden. Und wenn das klappt, dann sollen in Niedersachsen schon ab Ende kommenden Jahres keine Hähnchen mehr getötet werden dürfen.
Jedenfalls nicht, bevor sie nicht ein paar Wochen gelebt haben. Ein paar Wochen später ist es dann also wieder eine gute Sache. Ach, ich bin jetzt zynisch, und das hilft ja nicht. Aber was hilft?
Meine Oma hatte fast kein persönliches Eigentum. In ihrer Wohnung gab es kein fließend Wasser und keine Toilette. Sie schlachtete selten, nur an Weihnachten, zum Beispiel: Sie schlachtete ein Huhn und aß es auf. Sie fragte nicht nach Effizienz. Sie fand sich nicht arm. Sie trug ihre Schürze 30 Jahre lang. Sie ist nie im Urlaub gewesen. Sie saß abends auf der Bank hinterm Haus und streckte ihre Beine aus. Soll man wieder so leben? Bescheidenheit, wäre das die Lösung?
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
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