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Früher war nicht alles besser. Auch nicht dort, wo man fast geblieben wäreVenedig – wieder geworden, was es war

Foto: privat

Mittelalter Ambros Waibel

Zu den Erfahrungen des mittelalten Menschen gehört es, dass viele Erfahrungen unwiderruflich gemacht worden sind: schlimme, an denen man wächst, trägt, zugrundegeht oder verfault; und gute, die manchmal die schlimmeren sein können, weil man weiß: Diese Erfahrung in ihrer Erstheit, Frische und Faszination werde ich kein zweites Mal machen können. Zum Glück ist mir die Sehnsucht nach Wiederholung fremd. Ich bin gern, wo ich bin – oder gebe mir zumindest Mühe –, und wenn ich woanders sein möchte, dann liegt dieser Sehnsuchtsort in der Zukunft.

Vor knapp 25 Jahren habe ich in Venedig eine Entscheidung getroffen, nämlich die, kein Italiener zu werden. Damals sprach eigentlich alles dafür: Ich hatte ein gutes Leben, hatte Liebe und Freundschaft, ein Studium zu beenden. In Deutschland herrschte die Postvereinigungsbesoffenheit, die sich in Pogromen und – wie viele damals schon wussten – in staatlich ausgehaltenem Naziterrorismus entlud. Und Venedig machte es einem schon verdammt schwer, nordische Depressionen zu kultivieren. Schon allein deswegen, weil es zu den Volkssitten gehört, um 11 Uhr vormittags die erste „Ombra“ – ein kleines Glas Weißwein, Rotwein oder Prosecco – zu trinken und mehr oder weniger nahtlos in ein wunderbares Mittagessen übergehen zu lassen, worauf nach ein wenig Schlaf und Arbeit um 19 Uhr der Aperitif folgt, der in eine großartige „cena“ hineingleitet.

Trotzdem weiß ich, wenn ich heute mit meinen Kindern durch Venedig schippere, dass ich meinem damaligen Gefühl, unbedingt mitmischen zu wollen, in diesem merkwürdigen, wilden Berlin, sehr zu Recht getraut habe. Es sind tatsächlich ausschließlich meine Kinder, die in mir die Idee freigesetzt haben, hierher zurückzukehren, weil ich denke, dass Venedig zu den Sachen gehört, die man gesehen haben will. Und weil ich ihnen dabei zusehen kann, wie sie die Erfahrung Venedig machen, die ich nicht mehr machen kann. Wenn ich mich dabei bei dem reaktionären Gefühl ertappe, alles sei schlechter geworden – beim von Benetton verschandelten Bahnhof angefangen bis zum nicht enden wollenden und von Airbnb beförderten Bevölkerungsschwund –, dann muss ich nur in die nächste Bar gehen und einen Espresso trinken und in die übernächste, um meinen Kindern eine Schokolade auszugeben, um zu sehen, dass mich hier Chinesen, Inder und Pakistani in dem mir vor zweieinhalb Jahrzehnten zunächst fast unverständlichen venezianischen Dialekt bedienen.

Venedig ist in den letzten zwanzig Jahren wieder das geworden, was es jahrhundertelang war: ein Ort, wo Menschen von weiter her im Osten – Griechen, Türken, Armenier, Perser – hinkommen, um ihr Glück zu machen. Venedig hat eine von ihren italienischen Bürgern gewählte, unfähige und korrupte Stadtregierung, die die Stadt mittelfristig komplett in ein Freilichtmuseum verwandeln will. Wenn es noch eine Hoffnung gibt, dass Venedig eine von Menschen bewohnte und nicht nur bewirtschafte Ansammlung von Wundern bleibt, dann kann sich die Menschheit bei den Zuwanderern bedanken.

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