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Früher Spielkeller, heute Autobahn: Unterwegs mit dem großen BruderCarrera-Bahn mit Wankstabilisierung

Erwachsen

von Martin Reichert

Das „Kind im Manne“, so dachte ich jedenfalls, ist doch eher ein Phänomen wie „Landesverrat“ oder „Doppelkassettendeck“, also von gestern. Aber was man sich eben so denkt. „Doppelkassettendecks“ zum Beispiel sind bei Mittzwanzigern wieder schwer in Mode, und das Kind im Manne ist keineswegs totzukriegen, auch nicht bei Familienvätern, wie mein Bruder einer ist. Er ist fast fünfzig.

Am Wochenende besuchte er mich ohne Restfamilie aus dem Baden-Württembergischen in der fernen Hauptstadt Berlin; und mitgebracht hatte er ein Spielzeug aus Stuttgarter Produktion mit 500-PS-Motor, ein Testwagen seines Arbeitgebers mit dem wir dann vornehmlich im Stau standen. Wenn wir uns dann doch mal bewegten, dann mit 270 Stundenkilometern, was sich ganz anders anfühlte als damals, wenn mein Bruder und ich zusammen im „Spielkeller“ mit der Carrera-Autobahn Rennen fuhren.

Die „Boliden“ der Kindheit waren aus Plastik und flogen regelmäßig aus der Kurve, doch das erwachsene Modell hat eine „Wankstabilisierung“ und „Keramikbremsen“ und noch viel mehr Dinge, von denen ich nichts verstehe – und wie früher erklärte mir mein großer Bruder, was es mit der Technik so auf sich hat. Bis heute kann ich daher spontan referieren, was eine „Visko-Kupplung“ und der Unterschied zwischen einer Trommel- und einer Scheibenbremse ist – was leider nicht bedeutet, dass ich so etwas auch reparieren könnte.

Früher, ja, damals. Doch er ist sich in einer Sache völlig treu geblieben, und er ist damit als Mann seines Alters überhaupt nicht alleine: Er spielt noch immer. Am Abend besuchten wir einen alleinstehenden Herrn in Berlin, der einen Teil seiner Modellflugzeugsammlung verkaufen wollte. Das war auch nötig, denn in seiner Zweizimmerwohnung war vor lauter ferngesteuerten Spielzeugen kein Meter Platz mehr frei. So leben also erwachsene heterosexuelle Männer: Eine alte Couch, ein Flatscreen und der Rest ist voll mit Nerd-Content jeglicher Art. Es könnten auch Hanfpflanzen oder Computerbauteile sein. Unterhaltungselektronik oder Segelsportgerätschaften.

Treten diese Herren in den Stand der Ehe, werden diese Dinge in der Regel in den Hobbykeller verbannt. Doch die beiden traten nun in einen Fachdialog. „Wenn du einen VC3 verwendest musst du bei den Loopings steil anschneiden, sonst hast du Probleme mit der Appendix AM“, oder so ähnlich. Zwei große Jungs auf dem Pausenhof, die ihre Mofas vergleichen.

Derweil versank ich in Gedanken: O. k., mein emotionaler Bezug zur Automobiltechnik ist ungefähr auf dem Stand eines Matchboxautos stehen geblieben, während das halbe Land – und mit ihm mein Bruder – von der Automobilindustrie lebt und damit Familien ernährt.

Aber andererseits verbringe ich meine Freizeit auch nicht damit, Original-Playmobilfiguren in entlegenen Ortschaften zu kaufen. Was man sich so denkt. Ein Doppelkassettendeck habe ich noch im Keller, Landesverrat ist total 2015 – aber dem Kind in mir ist wohl irgendwas zugestoßen. Kann man das eigentlich reparieren?

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