■ Fremdenhaß im Spiegel der Verfassungsschutz-Statistik: Von Bayern lernen
Während sich Politiker bemühen, die gewalttätigen Übergriffe und Mordanschläge gegen Ausländer als „gesamtdeutsches Phänomen“ einzuplanieren, zeigt die Statistik deutliche und bedenkenswerte Differenzen. Nach den für die Bundesländer spezifizierten Zahlen der Kölner Verfassungsschützer ist festzuhalten:
In Ostdeutschland geschehen – pro 100.000 Einwohner gerechnet – weit mehr als doppelt so viele rassistische Verbrechen als im Westen der Republik (5,7:2,4). Da der Ausländeranteil dort 14mal höher liegt als im Osten, ist die Gefährdung für den einzelnen Fremden in Leipzig mindestens 30mal größer als in Hannover, in Rostock mindestens 100mal größer als in München. Dies gilt es zu notieren. Es ist falsch, wenn Wolfgang Thierse schreibt: „Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhaß sind keine spezifisch ostdeutschen Probleme. Hoyerswerda ist furchtbarerweise überall in Deutschland.“
Sowohl in Ostdeutschland als in Gesamtdeutschland herrscht ein signifikantes Nord-Süd-Gefälle: Im Schleswig-Holstein des Björn Engholm geschehen – bezogen auf 100.000 Einwohner – mehr als viermal so viele fremdenfeindliche Übergriffe wie in Bayern (4,2:1). Da die Ausländerquote in Bayern doppelt so hoch ist, besteht also eine Gefährdungsrelation von 8:1! Zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen herrscht ein Gefälle von 9,6:3,0. In der alten Bundesrepublik ist der Fremdenhaß in den sozialdemokratisch regierten Ländern Schleswig-Holstein (4,2), Saarland (4,1), Nordrhein-Westfalen (2,9) am stärksten, die rot-grün geführten Bundesländer liegen im Durchschnitt, die kosmopolitisch-amerikanisierten Stadtstaaten erweisen sich, trotz des hohen Ausländeranteils, als relativ resistent – insbesondere das mit hoher Arbeitslosigkeit belastete Bremen (0,3). Was die Flächenstaaten angeht, so leben Arbeitsemigranten, Flüchtlingsfamilien oder Asylsuchende mit Abstand am wenigsten gefährdet dort, wo der Konservatismus traditionell stark ist – in Bayern.
Nach der Statistik des Verfassungsschutzes ereigneten sich die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock, die Mordanschläge in Saarlouis, Hünxe und Mölln nicht zufällig in diesen Städten, sie geschahen in Regionen mit deutlich überdurchschnittlicher fremdenfeindlicher Kriminalität. Im historischen Rückblick entspricht die Verteilung rassistischer Gewalttaten im wesentlichen der Erfolgskurve der NSDAP bei den Wahlen zwischen 1928 und 1932. Für sie galt im Prinzip das gleiche Nord-Süd-Gefälle. Schleswig-Holstein war eine braune Hochburg par excellence, in Bayern konnten die Nazis den maßgeblichen Einfluß der konservativen Bayerischen Volkspartei bis 1933 nicht brechen. Die Protestanten waren im Schnitt doppelt so anfällig gegenüber der NSDAP wie die Katholiken. Die NSDAP siegte (entsprechend Jürgen Falters Analysen) im preußisch-protestantischen Milieu und profitierte dort vorzugsweise von den Nichtwählern und vom Zerfall des politischen Liberalismus; ihre soziale Basis fand sie in den alten und neuen Mittelschichten sowie – weit höher als früher angenommen – in der Arbeiterschaft.
Es wäre fatal, aus dieser immerhin interessanten Ähnlichkeit vorschnell zu folgern: „Der Schoß ist fruchtbar noch...“ Die jugendlichen Verbrecher von Hünxe haben mit Heinrich Himmler nicht mehr oder weniger zu tun als ich oder Sie, liebe LeserInnen! Die Selbstetikettierung als Rechtsradikale markiert gewollte, anders scheinbar kaum erreichbare Provokation; die ungeprüfte Übernahme dieses Etiketts verrät verdächtig eilige Distanzierung: Nein, mit denen haben wir nichts zu tun, allenfalls insoweit, als sie uns eine in den letzten drei Jahren gelegentlich schmerzlich vermißte Gewißheit zurückgaben – wir, die Linken, die Antirass-sex-fasch-imperialisten, wir sind die anderen, die besseren Menschen!
Aber selbst wenn an dieser von Giordano bis zum grünen Buffo gepflegten Distanzierung, die die unausgesprochene Leugnung jeder eigenen Mitschuld und Mitverantwortung an den gegenwärtigen deutschen Verhältnissen impliziert, auch nur ein Fünkchen Wahrheit wäre, sollte der Umstand zum Nachdenken anregen, daß AusländerInnen ausgerechnet in Bayern so wenig bedroht und verfolgt werden: Dort also, wo der selige Franz Josef Strauß sich das Wort „Auschwitz“ verbat und Dachau nur als aufblühende Kreisstadt im Speckgürtel von München wahrnahm. Ausländer leben dort einigermaßen sicher, obwohl der Innenminister die „Gefahr“ einer „durchrassten“ Gesellschaft an die Wand malte, der Ministerpräsident einen Demoaufruf des Herrn Bundespräsidenten ignorierte und sich dort Memminger Richter, Gerhard Frey, Heinz-Klaus Mertes, Franz Schönhuber und andere Quälgeister gewissermaßen gegenseitig auf die Füße treten.
Wenig wohlwollend könnte man sagen: Klar, je kleiner die geistige Differenz zwischen Stamm- und Kabinettstisch, desto geringer die rechtsradikale – außerinstitutionelle – Gewalt. Umgekehrt ließe sich argumentieren: Bayerische Politiker reden weniger verlogen als andere; ihre Sprache ist nicht dermaßen plastifiziert wie das Sachfragen-Handlungsbedarfs-Geschnurre des in die Kameras extemporierenden Herrn Engholm... Klarheit schafft allemal ein besseres Klima für zivile Lebensformen als verbaler Nieselregen.
Aber beide Argumente greifen zu kurz. Die deutliche statistische Kongruenz von NSDAP-Wahlerfolgen und der gegenwärtigen Verteilung rassistischer Gewalt verweist nicht auf eine spezifische Kontinuität zwischen Alt- und Neonazis, sondern auf tiefere Gemengelagen der deutschen Gesellschaft. Was Bayern vom Norden und Osten wesentlich unterscheidet, ist der Katholizismus; nicht im Sinne fleißigen Kirchgängertums, sondern im Sinne der damit zwingend verbundenen Differenz zwischen Staat und Gesellschaft. Die relative – gewissermaßen schon italienische – Autonomie der bayerischen Gesellschaft gegenüber ihren Regierenden führt dazu, daß dort das Staatswohl nicht mit dem Gemeinwohl gleichgesetzt wird, der Bürgersinn seine Erfüllung nicht in der AB-Maßnahme findet. Die Münchner Lichterkette war die erste und fand ganz selbstverständlich ohne Regierungsprominenz statt. In Bayern wählen die Leute zwar CSU, wissen aber ihre Interessen wahrzunehmen, wenn es um Abschaffung der Konfessionsschule, um Wackersdorf oder um die Müllpolitik geht, sie machen gleichzeitig die Süddeutsche Zeitung stark, deren leitende Redakteure die regierungsamtliche Asyl-„Debatte“ besonders unnachgiebig kritisieren.
Die Differenz zwischen Gesellschaft und Staat schafft Platz. Die Fehler und Unzulänglichkeiten der Gesellschaft, der Familien lassen sich so nicht auf den Staat projizieren – und umgekehrt. Die Konfliktflächen sind breiter. Daher ist der Zwang zur Suche nach dem symbolischen Haßobjekt geringer als in den vom lutherisch- preußischen Protestantismus geprägten Regionen des deutschen Nordens und Ostens. Dort wurde die Gesellschaft durch den Verzicht der Protestanten, Einfluß auf die weltliche Macht zu nehmen, freiwillig dem preußischen Autoritarismus ausgeliefert, das Gemeinschaftlich-Dumpfe höher bewertet als der Gegensatz und die prinzipiell unauflösbare Spannung. Wer aber Gesellschaft als beglückende Staatsveranstaltung von oben versteht, der nimmt der bürgerlichen Freiheit und Verantwortung den Atem. Und wo das Volkswohl triumphiert, haben die Fremden ihr Recht verloren. Götz Aly
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