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■ Französische Intellektuelle mischen die Politik auf ...... und hier versanden Initiativen

Das Staunen ist der Philosophie erstes Bedürfnis, ja gleichsam ihr Anfang. Wer derzeit nach Frankreich blickt, darf sich den Sand aus den Augen reiben: Da wird, mitten im langweiligen Europawahlkampf, von namhaften Intellektuellen um Bernard-Henri Lévy eine Sarajevo-Liste ins Leben gerufen. Die wiederum hat eine Debatte ausgelöst, die inzwischen weit über Sinn und Unsinn der bisherigen Bosnien-Politik hinausgeht und der Grande Nation und (West-)Europa den Spiegel vorhält. Einmal dahingestellt, ob man Lévys Sichtweise teilt oder nicht – allein schon das Engagement, mit dem die Auseinandersetzung von allen Seiten in Frankreich geführt wird, belegt, wie notwendig solche Debatten gerade in Zeiten der „Neuen Unübersichtlichkeit“ sind.

In Deutschland herrscht dagegen weiter Dunkelheit. Sicher, in Frankreich hat die Einmischung der Intellektuellen Tradition, doch läßt sich damit die Tatenlosigkeit der bundesdeutschen Gelehrten entschuldigen? Da haben zwar vor einer Woche 120 SozialwissenschaftlerInnen in einer bemerkenswerten Initiative die Frage nach der Solidarität in Deutschland gestellt. Der Aufschrei war angesichts der schräg geführten Standortdebatte längst überfällig, doch bewegt hat er sichtlich wenig: Der publizistische Widerhall hielt sich in Grenzen, die politische Klasse stieg, wer hätte es anders erwartet, über die wohlbegründeten Einwürfe kommentarlos hinweg. Sachlich tragen die Autoren, überwiegend ProfessorInnen aus den Disziplinen Ökonomie, Soziologie und Philosophie, ihre Analysen und Argumente vor, brav appellieren sie an die Politik, die soziale Einheit zwischen den Menschen nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, eilig fügen sie einen Katalog von Maßnahmen an, um nicht in den Verdacht der alternativlosen Fundamentalkritik zu geraten. Doch wer glaubt ernsthaft, daß sich damit die mut- und ideenlose Politik aufmischen läßt?

Um was es geht, ist die Form der Intervention. Grundsatzerklärungen und Anklagen, seien sie noch so leidenschaftlich abgefaßt, genügen dafür einfach nicht, ebensowenig wie symbolische Aktionen. Damit wird in erster Linie moralisiert, wo Politik gemacht werden müßte. Dazu bedarf es keiner Selbstdarstellung, keiner spektakulären Aktionen, keines Theaters, keines moralischen Schwarzer-Peter-Spiels. In der beinahe eingeschlafenen gesellschaftlichen Modernisierungsdebatte haben nur bestechende Ideen wirkliche Sprengkraft. Dabei sind es gerade die Intellektuellen, die solche Ideen entwickeln und anbieten können und müssen, die nicht in die Logik von Bürokratie, Politik und Medien passen und deshalb die nötige Brisanz besitzen.

Wieder einmal haben die französischen Intellektuellen ihren deutschen KollegInnen demonstriert, wie man eine öffentliche Debatte inszeniert. Die Verdrängung der Künstler, Gelehrten, Intellektuellen aus den öffentlichen Räumen haben diese sich zu einem Gutteil durch ihre genügsame, bisweilen arrogante Selbstbeschränkung selbst zuzuschreiben. Auf das Staunen und die überlegt-überlegene Einsicht, so lehrt die Philosophie, folgt die Handlungsanweisung. Gespannt dürfen wir sein, was kommen mag. Erwin Single

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