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Osteuropa

Fotos als Erinnerung Ein Leben, das es nicht mehr gibt

Vor einem Jahr gingen Zehntausende Belaruss:innen gegen ihren Machthaber Alexander Lukaschenko auf die Straße. Doch er ist immer noch da.

Foto: Natalia Fedosenko/ ITAR-TASS/ imago

In meinem Telefon ist nur noch we­nig Platz, deshalb habe ich beschlos­sen, einige Fotos zu löschen. Und so klicke ich mich durch Fotos und Vi­deos vom vergangenen Jahr und traue meinen Augen nicht. Das ist ein anderes Leben. Ein Leben, das es nicht mehr gibt. Die drei „Grazien“, wie die Belaruss*innen den Frau­ enwahlstab von Veronika Zepkalo, Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa genannt haben, hal­ ten in einem großen Stadtpark eine Wahlkampfveranstaltung ab.

Veronika spricht davon, dass viele Belaruss:innen wegen der ungünstigen wirtschaftlichen Lage weggin­gen: „Jedes Jahr, man stelle sich das vor, verlassen 40.000 Menschen Belarus. So viele Einwohner*innen, wie zwei mittelgroße Städte. Wir ver­lieren unser Volk!“

Der Exodus geht weiter

Aus heutiger Sicht erscheinen diese Worte naiv. Allein in diesem Jahr haben Hunderttausende Bela­rus den Rücken gekehrt. Der Exo­dus geht weiter, um sich in Sicher­heit zu bringen. Diese Emigration ist erzwungen, ungerecht und schreck­lich. Innerhalb von zwei Stunden packst du zusammen und denkst, dass du in einem oder zwei Mona­ten wieder zurückkehrst.

Letztend­lich findest du dich in einem un­bekannten Land wieder, praktisch ohne Geld und das für mindestens ein halbes Jahr. Genau das ist meiner Freundin Anna passiert. Sie musste überstürzt nach Vilnius ausreisen. Zuvor war sie von den Sicherheits­behörden vorgeladen worden, weil sie sich in den sozialen Netzwerken geäußert hatte.

15 Jahre wegen Landesverrats

Ich klicke mich weiter durch die Fotos. Auf einem umarmt mich Ma­ria Kolesnikowa und sagt: „Janka, ich werde dir niemals verzeihen, dass du es abgelehnt hast, für unseren Pres­sedienst zu arbeiten (für den Präsi­dentschaftskandidaten Wiktor Baba­riko)“. Sie lächelt dabei.

Maria kenne ich seit 2015. Da war sie noch Flötistin und pendelte zwi­schen Minsk und Stuttgart. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass Maria eine politische Führungs­persönlichkeit werden würde, hätte ich das nicht geglaubt.

Heute verstehe ich: Hätte ich zu­ gestimmt, für Babarikos Kampagne zu arbeiten, hätte ich heute diese Zei­len für die taz wohl nicht schreiben können. Denn ich wäre dort gewe­sen, wo Maria Kolesnikowa und Wik­tor Babariko jetzt sind – im Gefängnis. Und mir und meinem Kumpel Andrei Aleksandrow hätten 15 Jahre Freiheitsentzug wegen Landesver­rats gedroht.

Ein Arm voll Rosen

Das ist schon Wahn­sinn, wenn du Menschen hilfst, ihre Geldstrafen wegen der Teilnahme an einer Protestaktion zu bezahlen, und dir dann unterstellt wird, du würdest sie finanzieren.

Und da, ein Foto von den ersten Protestaktionen. Frauen in weißen Kleidern haben eine Menschen­kette der Solidarität gebildet. Ein Mann hat einen Arm voll Rosen gekauft und verteilt die Blumen. Wo habe ich sein Gesicht schon einmal gesehen? Ach ja, genau, das ist Ste­pan Latypow – der Mann, der jetzt nur deswegen in Haft ist, weil er Po­lizeikräfte gefragt hat, was sie im Hof seines Hauses täten.

Schauspieler:innen waren gezwungen, das Land zu verlassen

Ein anderes Foto: Da stehe ich mit einem Plakat in der Hand, auf dem in belarussischer Sprache steht: „Zähl uns einfach!“ Das ist ein Appell an die Leiterin der Zentralen Wahlkom­ mission Lidia Jermoschina, die ver­ kündet hatte, dass 80 Prozent der Belaruss:innen für Alexander Luka­schenko gestimmt hätten. Freunde von mir waren Beobachter:innen in Wahllokalen und wissen ganz genau, dass diese Zahl eine Fälschung ist.

Ich klicke mich weiter durch die Fotos und beginne zu weinen. Ich sehe Schauspieler:innen des Freien Theaters, sie drehen mit dem Regis­seur Aleksei Polujan gerade den Film „Courage“, der auf dem Festival Ber­linale Special gezeigt wurde. Sie alle waren gezwungen, das Land zu verlassen.

Ich sehe meine Kolleg:innen aus dem Presseclub, die seit Anfang des Jahres im Gefängnis sind, weil sie angeblich keine Steuern gezahlt haben. Wir lächeln alle, sind voller Hoffnung. Und tatsächlich, wir ha­ben Mut geschöpft. Wir glaubten an Veränderungen. Aber da wis­ sen wir noch nicht, wie schrecklich diese Veränderungen für uns wer­ den würden.

Ein anderes Foto: Ich binde mit meinen Nachbarn rote und weiße Bändchen an einen Zaun. Dann es­ sen wir Torte und trinken Tee. Wir wissen noch nicht, dass bei den Be­treibern des Hofchats auf Telegram bald Hausdurchsuchungen statt­ finden und sie Belarus verlassen müssen.

Ich kann diese Fotos nicht lö­schen, sie sind meine Geschichte, meine Hoffnung. Das ist wie eine Retrospektive der Zivilgesellschaft, eine Fixierung der Ereignisse, wie der Faschismus im 21. Jahrhundert nach Europa zurückgekehrt ist.

Ja, ich weiß, dass das schrecklich klingt. Aber das, was in meinem Land passiert, das ist Faschismus und ein Genozid am belarussischen Volk. In Belarus hat eine verbrecherische politische Gruppe die Macht an sich gerissen, der nichts heilig ist und an deren Händen Blut klebt. Sie versucht, alle kritisch denkenden Menschen in die Emigration zu drängen.

Das ist eine Philosophie der Sklaverei

Wenn eine Person nicht freiwillig geht, dann bedeutet das, sie fährt ein. Das Ergebnis ist: Es bleiben nur diejenigen, die für Lukaschenko, für „Stabilität“ sind. „Bei uns herrscht kein Krieg, ich habe Brot mit Butter.“ Das ist ein Satz, wie ein/e vorbildliche/r Belaruss*in nach Meinung der Staatsmacht sein sollte. Aber das ist eine Philosophie der Sklaverei.

Fragt mich jemand, welche Perspektiven ich sehe, sage ich mit Bedauern: Wir werden zum Schnäppchenpreis an Russland verkauft. Lukaschenko übergibt mein Vaterland an Präsident Wladimir Putin. Um sei- nes eigenen Vorteils willen, ist er zu allem bereit. Er hat klar davon ge- sprochen, dass russische Panzer schon morgen einrücken könnten. Er glaubt nicht daran, dass ihn dasselbe Schicksal wie Ceaușescu (ru­mänischer Diktator, er wurde am 25. Dezember 1989 hingerichtet; d. Red.) ereilen könnte.

Aber offen gesagt ist Lukaschenko bereits ein politischer Leichnam. Und wenn Putin zu dem Schluss kommt, dass er eine Provinz Belarus braucht, wird Lukaschenko entfernt – physisch. Einen psychisch instabilen Gouverneur braucht Russland nicht. Leider muss ich feststellen, dass das belarussische Volk nicht so leidenschaftlich ist, wie die Ukrainer*innen. Es lässt zu, sich verspotten und aus dem Haus werfen zu lassen. Es lässt zu, dass seine Unabhängigkeit verkauft wird.

Die Zeit der Depressionen ist angebrochen

Noch vor einem Jahr waren wir voller Hoffnung, wir versuchten zu protestieren, doch jetzt ist die Zeit der Depressionen angebrochen – der Depressionen und Repressionen.

Die Menschen gehen nicht mehr auf die Straße. Niemand zündet mehr in der Öffentlichkeit Kerzen im Gedenken an die Gestorbenen an, niemand geht mehr in weiß-roter Kleidung hinaus. Wir sitzen still in der Küche und trinken verbittert Wodka. Und wir hoffen auf ein Wunder. Doch kann es ein Wunder geben, wenn wir nichts tun? Ich habe keine Antwort auf die Frage: „Was wird sein?“ Ich lebe von Tag zu Tag und habe Angst, dass jemand an die Tür klopft. Ich versuche, so gut wie möglich meine Familie zu schützen. Ich will mein Land nicht verlassen. Hier ist mein Zuhause, meine Heimat.

Für die taz schreibe ich unter Pseudonym, damit sie mich nicht finden und in der Hoffnung, dass es Deutschland nicht egal ist, was in Belarus passiert.

Als wir uns mit der taz das „Minsker Tagebuch“ ausgedacht haben, konnten wir nicht ahnen, dass dieses Projekt so lange dauern würde. Ich möchte so gerne eine Folge schreiben, in der ich die Geburt eines neuen Belarus feiere, ohne Lukaschenko. An diesem Tag wird in Belarus der Sekt ausgehen, weil die Menschen auf den Straßen alle miteinander anstoßen. Ich glaube, dass dieser Tag kommen wird. Bestimmt.

Aus dem Russischen von Barbara Oertel