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Fotograf Dirk ReinartzDer Erfinder der Nicht-Orte

Eine Retrospektive des Fotografen Dirk Reinartz ist sechs Jahre nach dem Tod des Künstlers eine fällige Wiederentdeckung. Sein stärkstes Motiv blieben zeitlebens die "deutschen Zustände".

Hamburg Sankt Georg, 1981. Bild: Dirk Reinartz / Courtesy Suermont-Ludwig-Museum

In den kommenden Monaten wird die Retrospektive von Dirk Reinartz hoffentlich zu einer Pilgerstätte werden, insbesondere für den künstlerischen Nachwuchs. Denn schon formal unterscheiden sich seine Fotografien von allem, was derzeit in den Galerien und Museen angesagt ist. Die Abzüge seiner analogen Aufnahmen haben ein für unsere Zeit ungewöhnlich kleines Format, und sie sind holzgerahmt. Dass sie größtenteils schwarz-weiß sind, verweist nicht etwa auf Fine Art, sondern auf die journalistische Herkunft des Künstlers. Er arbeitete in Serien, aber nicht seriell. Obgleich sein Stil einzigartig war, besaß er kein Markenzeichen. Oberflächenreize lagen Dirk Reinartz immer fern. Er war ein Meister der alten Schule. Dennoch wirken seine Bilder noch heute frisch, originell und aktuell.

Es verwundert daher, dass dem Künstler erst jetzt, sechs Jahre nach seinem Tod, im Suermondt-Ludwig-Museum in seiner Geburtsstadt Aachen eine erste Überblicksschau eingerichtet wird. Frühe Aufnahmen aus der Zeit, als Reinartz an der Essener Folkwangschule Fotografie studierte, belegen den Einfluss seines Lehrers Otto Steinert. Während sich der junge Fotograf beim Autorennen in Bewegungsstudien und der Arbeit mit Kontrasten übte, begab er sich für Impressionen von Pariser Flohmärkten, aus dem Louvre und vom DDR-Grenzübergang so nah an seine Mitmenschen heran, wie später nie wieder. Sein ironischer, humorvoller und skeptischer Blick bedingte trotz spürbarer Anteilnahme Distanz.

Lebenslange Hassliebe

Als Dirk Reinartz mit 23 Jahren beim Stern als Fotojournalist anheuerte, wurde er zudem mit Reportagen beauftragt, die ohne entsprechenden Sicherheitsabstand tödlich ausgegangen wären. Ein Bildquartett, das 1976 in Belfast entstand, genügt, um zu skizzieren, wie eng ziviles Leben, militärische Präsenz und blutige Gewalt im nordirischen Alltag verbunden sind. Spektakel und Voyeurismus, ob journalistisch legitimiert oder nicht, hat den Fotografen nie interessiert. "Der Stern, das ist die Welt als Supermarkt", soll er gesagt haben. Nach sechs Jahren kündigte er, um sich neben der Arbeit für Magazine eigenen Projekten zu widmen. Vielleicht sah Dirk Reinartz aber auch, dass die Zeit der Reportagefotografie zu Ende ging. Inzwischen hat das Genre im Kunstbereich eine Nische gefunden. Fotoausstellungen und Fotobücher wie jene von Dirk Reinartz sind gegenüber der tagesaktuellen Bilderflut Reservate der Entschleunigung.

Zeitlebens fühlte sich der Fotograf seiner deutschen Heimat in einer Art Hassliebe verbunden. Wie er den Blick auf anonyme urbane Architektur und zufällige Situationen im Alltag richtete, sagte mehr über gesellschaftliche Befindlichkeiten aus als jede noch so symbolträchtige Bildinszenierung. Das Wirtschaftswunder war seit Mitte der 70er Jahre tot. So viel stand fest. Wer wollte da schon die Schattenseiten und Nachwirkungen des schnellen deutschen Aufschwungs vor Augen geführt bekommen?

Der Titel der Serie "Kein schöner Land" zitiert eines der beliebtesten, in der Romantik entstandenen Volkslieder. Reinartz zeigt unspezifische Nicht-Orte, die erst durch den fotografischen Zugriff bildwürdig werden: etwa ein Kind in einem Einkaufswagen, dessen Verlorenheit dadurch betont wird, dass der ganze Wagen völlig isoliert auf einem Parkplatz steht, und von dem nichts als die Pflasterung zu sehen ist. Mit Ausnahme zweier Reisen nach New York und in die Stadt Bismarck in den USA arbeitete sich der Fotograf vor allem an deutschen Zuständen ab. Er untersuchte den Umgang mit Bismarckdenkmälern, fotografierte norddeutsche Backsteingotik und das Leben am Zonenrand, reiste durch Pommern und porträtierte Künstlerkollegen. Im separaten Kaminzimmer des Museums sind Bilder versammelt, mit denen Reinartz' Arbeiten von Richard Serra, mit dem er freundschaftlich verbunden war, dokumentiert hat.

Eckkneipe und Pudelsalon

In Aachen werden nun erstmals auch Auszüge aus "Hamburg St. Georg 1981" vorgestellt. Statt Luden und Junkies beobachte Reinartz spielende Kinder und Katzen vor einer Eckkneipe, besuchte einen schäbigen Pudelsalon, der heute sicher längst gentrifiziert ist. Vermutlich freute er sich ebenso wie der Betrachter über ein Graffiti, das zur Teilnahme an einer Demo animierte und neben einem Werbeplakat für die Zigaretten platziert war, auf dem "Let's Go West" stand. An humorvoll kritischen und ästhetisch verblüffenden Bildfindungen ist die Werkschau reich. Eine mehr als fällige Wiederentdeckung.

Bis 6. Februar 2011, Suermondt-Ludwig-Musuem, Aachen; neue Publikation: "Hamburg und St. Georg 1981", Steidl Verlag, 28 Euro

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