Folge des Milchskandals: Chinas neuer Bürger-Protest
Per Handy und Internet hat sich in China wegen des Milchskandals eine Bürgerbewegung gebildet. Gegen deren geschicktes Vorgehen ist Peking machtlos. Eine neue Erfahrung im Reich der Mitte.
Li Fangping telefoniert seit drei Stunden ununterbrochen. Den Wasserbecher auf dem vollgepackten Schreibtisch seiner Kanzlei im Westen Pekings hat er nicht einmal angerührt. Was man denn nun gegen die Produzenten des vergifteten Milchpulvers weiter unternehmen könne, schreit ein Mann gerade aufgeregt durchs Telefon. Rechtsanwalt Li im schwarzen Anzug und feiner Goldbrille rät dem Vater, Pulverpackungen und medizinische Unterlagen seiner Tochter gut aufzuheben. Li schreibt Anmerkungen zu den bereits notierten Eckdaten des Anrufers auf die Seite einer dicken Kladde. Er und seine Kollegen arbeiten an einen Entschädigungsentwurf für Firmen und Regierung, erklärt der 34-Jährige dem Anrufer. "Falls so keine Einigung zustande kommt, klagen wir", sagt Li. Sein Gesicht ist hager, die Augen müde. Er hat kaum aufgelegt, da läutet das Handy erneut.
Angesichts eines korrupten und hilflosen Staatsapparats nimmt die chinesische Bevölkerung beim Milchskandal ihre Interessen nun selbst in die Hand. Rechtsanwalt Li koordiniert die erste zivile Rechtshilfegruppe für betroffene Konsumenten in ganz China. Mit einem Dutzend Kollegen hatte er noch am Abend der öffentlichen Skandal-Bekanntgabe am 19. September ein kostenfreies Beratungsnetzwerk initiiert. Um möglichst viele Betroffene zu erreichen, veröffentlichten die Anwälte ihre Handynummern im Internet.
Das Netzwerk umfasst nun 124 Anwälte in 22 Provinzen und Großstädten Chinas. "Die Anrufe sind wütend und verzweifelt", sagt Li, "sie sagen immer, dass nur wir ihnen zuhören, und wir erklären, was sie tun können." Unter den offiziellen Hotlines der Unternehmen und Behörden sei niemand zu erreichen oder niemand fühle sich verantwortlich, so schimpften die Anrufer. Lokale Rechtsbüros und Kanzleien haben Li und andere Kollegen gewarnt, die Betroffenen nicht weiter rechtlich zu vertreten. "Wir sollten doch an die Regierung glauben", zitiert Li die Behörden, "und es ginge doch um die soziale Stabilität."
Peking hat Gründe, nervös zu sein. Zum ersten Mal betrifft eine durch den Staatsapparat mitverschuldete Katastrophe die gesamte Bevölkerung. Die Käufer der anfangs betroffenen Produkte des Unternehmens Sanlu stammten meist aus der von permanenten Ungerechtigkeiten geplagten Unterschicht. Da die Panscherei aber die gesamte Milchindustrie betrifft, tobt nun auch die städtische Mittelschicht. "Früher konnte die Regierung die Leute mit Beteuerungen und Geld beruhigen", sagte Anwalt Li, "aber nun ist der öffentliche Druck zu groß."
Auch angesichts der Organisationskraft des Internets ist Peking relativ machtlos. Eltern haben Plattformen mit Namen wie "Nieder mit dem Milchpulver der Firma Sanlu" oder "Verband der Opfer von Sanlu" ins Leben gerufen. Die Organisatoren rufen alle Teilnehmer zu Besonnenheit und zum rechtmäßigen Vorgehen auf. Denn so kann die chinesische Führung ihnen nichts vorwerfen.
Der von Peking propagierte Rechtsstaat ist keine leichte Sache für Peking. Das spürt Rechtsanwalt Qu Haibin, ebenfalls Freiwilliger im Rechtshilfenetzwerk von Li, am eigenen Leibe. Qu ist ehemaliger Soldat. Dem chinesischen Staat verdankt er sein Studium und seine Karriere als Wirtschaftsanwalt. Konflikte zwischen Gesetz und Regierung in China kann er, anders als Li, nicht einfach so annehmen. "Ich versuche die Leute von überhasteten Klagen abzubringen", sagt der 38-jährige Qu, "sie sollen doch an unsere Führung glauben und etwas Geduld haben." Im nächsten Satz hört sich Qu wieder an wie Li. Wenn der Staat und die Firmen die Betroffenen nicht umfassend sowie bei Spätfolgen entschädigen, dann werde er die Leute bei Klagen vertreten, so Qu.
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