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Archiv-Artikel

Flüsse sind wie Seelen

Der vehemente Kritiker des Sowjetregimes, der Thomas-Mann-Skeptiker und der Puschkin-Verehrer: „Eigensinnige Ansichten“, eine Sammlung von bisher nicht auf Deutsch zugänglichen Texten von Vladimir Nabokov

VON ULRIKE MEITZNER

Was haben Massenveranstaltungen, sozial engagierte Literatur, der Kommunismus und widerspenstig verkrumpelte Pyjamas gemeinsam? Sie hindern das Individuum an der freien Entfaltung. Oder, im Falle der „Ideenliteratur“, ordnen das Individuelle dem Allgemeinen, das Detail dem Gemeinplatz unter, und sie alle waren Vladimir Nabokov herzlich zuwider. Das hatte handfeste Gründe, denn was Einschränkungen der Individualität betrifft, war Nabokov ein gebranntes Kind. Schließlich musste er als Adliger kaum achtzehnjährig nach der Oktoberrevolution seine Heimat St. Petersburg verlassen und im Verlauf seines weiteren Lebens zusehen, wie in Russland ein auf brutaler Gleichmacherei basierendes System errichtet wurde.

Im 15 Jahre währenden Berliner Exil erlebte er mit dem Nationalsozialismus den Aufstieg einer weiteren totalitären Massenbewegung, vor der er und seine Familie schließlich 1940 in die USA flohen. Dort gab es zwar (McCarthy zählte kaum im Vergleich zu den stalinistischen und faschistischen Gräueln) keine politische, dafür aber eine kulturelle Gleichschaltung, die Nabokov in vielen seiner amerikanischen Romane, zum Beispiel „Lolita“, ins Visier nahm. Humbert Humbert, der pädophile Erzähler, hat die Sympathien des Lesers immer dann auf seiner Seite, wenn er sich über den klebrigen Einheitsbrei der Jugendkultur von Milchshakes bis Mädchenzeitschriften lustig macht, dem sein Nymphchen verfallen ist.

Seit der Erfolg von „Lolita“ ihm internationales Medieninteresse bescherte, gab Nabokov seine Ansichten über Literatur und Politik gerne zu Protokoll. In den Siebzigerjahren versammelte er ausgewählte Interviews und Essays in dem Band „Deutliche Worte“, der viel dazu beitrug, das Bild von Nabokov als elitärem Literaturpapst zu bestätigen. Jetzt hat Dieter E. Zimmer, Herausgeber der Gesammelten Werke bei Rowohlt, unter dem Titel „Eigensinnige Ansichten“ eine Sammlung von bisher gar nicht oder nicht auf Deutsch zugänglichen Texten zusammengestellt, die das gängige Nabokov-Bild erweitern. Mehr als die Hälfte der Texte stammen aus den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren, so dass die Konturen eines so bisher nicht bekannten Autors sichtbar werden.

Viele Leser dürften überrascht sein, dass der Verfasser von „Ada“ und „Fahles Feuer“ in den frühen Zwanzigerjahren Texte über russisches Holzspielzeug schrieb oder wehmütig und mit spätromantischem Vergeblichkeitsgestus Erinnerungen an seine Heimat beschwor: „Jeder erinnert sich an einen russischen Fluss, hält aber kraftlos inne, sobald er versucht, darüber zu sprechen … Flüsse sind nämlich wie Seelen, alle ganz verschieden … Aber im Herzen eines jeden, dort, wo die unstete, stählerne Schwermut ihren geheimen Schatz in Ketten gelegt hat, stimmt der heimatliche Fluss bisweilen deutlich vernehmbar ein Lied an …“

Hier lässt sich Nabokov noch in die Karten schauen, bevor er den „geheimen Schatz“ der Heimatsehnsucht in kühlen Textkonstruktionen sublimiert. Vor allem aber ist es spannend, den politischen Nabokov zu entdecken, der in Rul, der größten russischen Tageszeitung Berlins, publizistische Angriffe gegen das Sowjetregime fuhr. Zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution formulierte er dort sein antisowjetisches Glaubensbekenntnis: „Ich verachte den kommunistischen Glauben als Idee gemeiner Gleichheit, als eine langweilige Seite in der feierlichen Geschichte der Menschheit, als Verneinung weltlicher und nichtweltlicher Schönheit, als etwas, das einen dummen Anschlag auf mein freies Ich verübt, als Förderung von Unwissenheit, Stumpfsinn und Selbstzufriedenheit.“ Die eigentliche Kritik am Sowjetregime ist dessen Verneinung des Individuums, des Schönen. Das Politische hat hier ästhetische Implikationen und umgekehrt; man versteht, aus welchen Quellen sich die Vehemenz der Kritik des späteren Nabokov speiste, wenn er literarische Plattheiten anging. In zwei Aufsätzen aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren kann man nachlesen, wie Nabokov Werke mit so sprechenden Titeln wie „Zement“ einer erbarmungslosen und auch für heutige Leser noch sehr unterhaltsamen Analyse unterzieht. Dabei bemühte sich Nabokov um einen sachlichen Ton, der die Peinlichkeit des Gegenstands umso krasser hervortreten lässt. Etwa wenn er trocken diagnostiziert, historisch gesehen kehre die Sowjetprosa zurück zur „unschuldigen Kindheit der europäischen Literatur“, als „Teufel mit Hörnern, Geizhälse mit ihren Säcken, zänkische Frauen [und] dicke Müller“ simpel gestrickte Fabeln bevölkerten: Literatur als Kasperletheater.

Eine interessante Parallele ergibt sich beim Vergleich von Nabokovs Kritik an der Sowjetliteratur und an Thomas Mann. In einem bisher unveröffentlichten Text widmet er sich dessen Erzählung „Das Eisenbahnunglück“. Dabei kritisiert er die Formelhaftigkeit, mit der die Eisenbahn als Allegorie der wilhelminischen Gesellschaft dargestellt wird, deren feste (Wagen-)Klassen vom Unfall kräftig durchgeschüttelt werden. Die auftretenden Figuren sind nichts als Statisten: ein armes Mütterchen, ein hochmütiger Aristokrat, ein wilhelminischer Schaffner.

Nabokovs Diagnose unterscheidet sich nicht wesentlich von seiner Kritik an den Sowjetschriftstellern: „Sie werden bemerken, was so total unkünstlerisch ist: Die Figuren existieren nur, um diese oder jene allgemeine Idee zu repräsentieren.“ Genau wie der sowjetische war der Mann’sche Realismus für Nabokov ein „Sumpf von Plattitüden“ und deshalb eine „Schwindelwelt“. Gegen Ideenliteratur und Zweidimensionalität stellte Nabokov emphatisch einen Autor, in dessen Sprache er all die Schönheit und Schattierungen fand, die er bei seinen russischen Zeitgenossen vermisste: Puschkin.

Die meisten Nabokov-Leser wissen nicht, dass das Werk, das er neben „Lolita“ für sein wichtigstes hielt, die wortgetreue und umfangreich kommentierte englische Übersetzung von Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ war. Mehrere Aufsätze zu Puschkin und der „Onegin“-Übersetzung finden sich in dem Band, sie gehören zu den komplexesten, aber auch lohnendsten des Buches. Der Übersetzungsprozess lässt sich gleichsam miterleben, wenn man Nabokov bei seinen Überlegungen zu einem einzelnen Vers aus dem „Onegin“ folgt. Verschiedenste Sprach-, Klang- und Duftregister werden aufgerufen, um das passende englische Äquivalent für zwei russische Baumarten zu finden, die man mit „Akazie“ und „Mimose“ übersetzen könnte. Von der botanisch genauen Bestimmung erstreckt sich die Suche nach dem richtigen Wort über die Assoziationen des russischen Lesers bis zu literaturgeschichtlichen Bezügen. Nach sieben Seiten ist es erreicht, das Glück der Präzision, die richtige Übersetzung für die beiden Baumarten: „ ‚unter den Traubenkirschbäumen und Erbsen-sträuchern‘ “.

Vladimir Nabokov: „Eigensinnige Ansichten“. Band 21 der Gesammelten Werke. Herausgegeben von Dieter E. Zimmer. Deutsch von Katrin Finkemeier, Gabriele Forberg-Schneider, Christel Gersch, Sabine Hartmann u. a. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004, 576 Seiten, 38 Euro