Filmkomödie „Silver Linings“: Hemingway fliegt raus
Ein Soziotop verzwickter Familienverhältnisse und verletzter Seelen: In „Silver Linings“ widmet sich Regisseur Russell den Neurosen der US-Mittelschicht.
Hemingways „A Farewell to Arms“ fliegt im hohen Bogen aus dem Fenster. Nachts um drei. Anlass für solch grobe Literaturkritik: Wie kann der Mann seinen beiden Hauptfiguren nach all den Entbehrungen am Ende das Happy End verweigern? Warum muss die Frau sterben, warum können die beiden nicht einfach miteinander tanzen?
Der da so erbost über Kanonliteratur zetert, ist Pat (Bradley Cooper). Die Scheiben, durch die das Buch spätnachts flog, gehören seinen Eltern Pat Sr. (Robert De Niro) und Dolores (Jacki Weaver), die sich um diese Uhrzeit auch Besseres vorstellen könnten als wutschnaubende Textinterpretationen im eigenen Schlafzimmer.
Diplomatisch ausgedrückt hat Pat ein Problem mit seinem Gefühlshaushalt, medizinisch ausgedrückt eine bipolare Störung, die ihm neben einem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik eine gescheiterte Ehe samt Gerichtsauflage zur Distanzwahrung eingebrockt hat und einen Wiedereinzug bei den Eltern – von denen der Va- ter selbst ein hochabergläubisches bis schwer neurotisches Zwangsverhältnis zu seiner Lieblingsmannschaft, den Eagles, pflegt.
„Silver Linings“. Regie: David O. Russell. Mit Bradley Cooper, Robert de Niro, u.a. USA 2012, 122 Minuten.
Ähnlich diplomatisch ausgedrückt ist Pat gewillt, sein Leben wieder ins Lot zu bringen. Enthusiasmus und Zuversicht kennen keine Grenzen, insbesondere was seine Exfrau betrifft, mit der eine wunderbare Ehe zu führen er noch immer fest überzeugt ist – entgegen allen Beteuerungen, in diese Richtung tunlichst keine Ambitionen mehr an den Tag zu legen.
Inszenierung zwischen Indie- und Arthouse-Film
In Tiffany (Jennifer Lawrence) findet Pat eine Seelenverwandte, zumindest was das Nervenkostüm betrifft: Verwitwet und ihrerseits hochneurotisch, soll sie für Pat als Scharnier zu seiner Gattin dienen, um dann doch – über viele Umwege und Verletztheiten – ein ganz eigener Anker zu werden.
Man staunt, was für eine Plot- und Weltmaschine „Silver Linings“ ist – dichter und mit längerem Atem wurde vom Neurosenhaushalt der amerikanischen Mittelklasse zuletzt kaum erzählt: Ein ganzes Soziotop an Familien, Lebensumständen, sich neu ergebenden Konstellationen und Relationen wird hier, wie es scheint, ganz mühelos aufgestellt.
„Silver Linings“ streift in betont schmuckloser, aber effizienter Inszenierung den Indie- und den Arthouse-Film, ist Komödie, dann Drama, zuweilen modisch skurril, aber dann doch immer ein Film, der seine Figuren, allen durch Fenster fliegenden Hemingways zum Trotz, doch nie als Marottenständer preisgibt, sondern unbedingt ernst nimmt. Kann ein Film eine schwer neurotische Episode und einen fluffigen „Gemeinsam packen wir’s!“-Showdown, wie es ihn seit den 1980ern nicht mehr schöner gab, im Ernst unter einen Hut bringen?
Er kann, sofern ein Regisseur mit dem Gespür für das eine wie das andere an die Sache geht, der keine Scheu vor den Dynamiken einer solchen Geschichte zeigt: David O. Russell ist so einer. In Filmen wie „I Heart Huckabees“ und „The Fighter“ lotete er bereits vor unwahrscheinlichen Kulissen und mit unwahrscheinlichen Mitteln die Tiefen verletzter Seelen und verzwickter Familiengeschichten aus.
Es sind beides Filme – und „Silver Linings“ fügt sich problemlos in diese Reihe ein –, die vor allem von einer faszinierenden Begeisterung für das Erzählen getragen sind, für das Erzählen von Menschen und ihren Lebensumständen, ihren Krisen und Macken, von Enttäuschungen und Zielen, den Wegen und Umwegen, die dorthin führen. So wie in „The Fighter“ Christian Bale und Mark Wahlberg durch die Straßen ihres Viertels laufen, bald nach rechts, bald nach links High Five geben, so joggt auch Pat fast manisch durch das Mittelklasse-Viertel seiner Eltern – in beidem zeigt sich vielleicht David O. Russells erkundendes Interesse an der Welt.
Und am Ende wird dann doch getanzt, reichlich.
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