Filmfestspiele in Cannes: Was fehlt, ist Spannung
■ Der zweite Tag in Cannes: Filme von André Téchine und Ricky Tognazzi
Die Rolle paßt zu ihrer stets leicht pikierten Mine: Catherine Deneuve spielt in André Téchines „Ma saison préférée“ die Gattin-Mutter-Tochter-Schwester Emilie, die versucht, den Schein zu wahren – in einer Familie, die kaum mehr zusammenhält. Ihre Mutter kann nach einer Reihe von Schlaganfällen nicht mehr alleine leben, man muß sich um sie kümmern. Darum muß Emilie nach langer Zeit wieder Kontakt zu ihrem von Daniel Auteuil gespielten Bruder aufnehmen – dem schwarzen Schaf der Familie. Das gibt Streit. Am Ende des Films aber, über dem Grab der Mutter, finden Bruder und Schwester wieder zueinander.
Erstmals also spielen Deneuve und Auteuil Seite an Seite – so hat französisches Kino lange Zeit funktioniert: durch immer neue Konstellationen von Stars.
Daß Deneuves und Auteuils Verwandtschaft physiognomisch nicht gerade wahrscheinlich ist, könnte man als kleines Problem ansehen. Nur hat der Film eine Menge kleiner Probleme. Die Mutter etwa soll eine Bäuerin sein, an einer Stelle behauptet sie gar, nicht lesen zu können, dennoch spricht sie reinstes, höchstes Schriftfranzösisch. Und wie kommt es, daß ihre beiden Kinder sozial so erfolgreich sind – sie Anwältin, er Arzt? Téchine schafft es auch nicht, sich auf sein Trio zu konzentrieren – all die anderen Familienmitglieder mit ihren Neurosen dürfen auch nicht fehlen. Hinzu kommen kleine technische Mängel – ungewollte Unschärfen, Schnee, der sichtlich aus Seifenschaum besteht, holprige Kamerafahrten. Der Film ist ermüdend. Da helfen auch keine Stars.
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Ricky Tognazzis neuer Film „La scorta“ (Die Eskorte) leidet an ähnlichen Symptomen. Ein heldenhafter Staatsanwalt kämpft in Sizilien gegen die Mafia – und also auch die eigenen Vorgesetzten –, und seine Schutzmannschaft steht ihm mannhaft zur Seite. Tolles Thema. Allein die Choreographie der Bewegungen von Bodyguards beim Absichern eines Terrains oder ihre rasenden Stadtfahrten, um kein Ziel für die Killer abzugeben, sind extrem filmische Sujets. Sie werden im wesentlichen verschenkt. Tognazzi erschöpft sich eben in Standbildern der Mann- und Heldenhaftigkeit, in bedeutungsschweren Augenaufschlägen und Appellen an die italienische Volksseele. Was hätte Francesco Rosi noch vor zwanzig Jahren für einen Politthriller aus dem Stoff gemacht! Die Zeit ist vorbei.
Beide Filme haben durchaus gelungene Momente. Was ihnen fehlt, ist Spannung. Dieser Mangel an innerem Zusammenhalt spiegelt den Mangel an äußerem Zusammenhalt, in dem europäische Regisseure heute arbeiten. Sie kämpfen mehr um Mittel für ihre Filme als um filmische Mittel. Die europäischen Kinoindustrien laufen nicht mehr, sie stocken. Die Filme selbst sind nur noch Symptome dieses Zerfalls. Thierry Chervel
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