Filmfestival in Locarno beendet: Von Stillstand und kleinen Fluchten
Der 62. Ausgabe des Filmfestivals fehlten die großen Highlights. Der Goldene Leopard ging an "She, A Chinese", das Spielfilmdebüt von Xiaolu Guo.
Ein Dorf in China, dessen Alltag für die junge Mei Stillstand bedeutet. Eine entlegene Gegend im Nordiran, in der den jungen Männern nicht nur ökonomische Perspektiven fehlen, sondern auch Frauen im heiratsfähigen Alter. Eine Kleinstadt in Brasilien, in der Teenager mit Einsamkeit hadern. Oder, im Westen Europas, das Ende einer Beziehung, das ein Weiterleben in den alten Räumen ganz unmöglich macht.
Wie kommen wir da bloß weiter - oder raus? Entlang dieser Frage entwickelte ein Gutteil der diesjährigen 18 Wettbewerbsbeiträge in Locarno seine Erzählungen. Mei zum Beispiel - Hauptfigur von "She, A Chinese" - geht in die nächstgelegene Stadt und beginnt, die Männer, die sie trifft, für ihr eigenes Fortkommen einzusetzen. Eine Strategie, die sie immerhin bis nach London bringt. Auch Alam, der in Babak Jalalis lakonischer Tragikomödie "Frontier Blues" einstweilen noch auf einer Hühnerfarm werkt, lernt schon einmal englisch.
Der Blogger namens Mr. Tambourine muss in Esmir Filhos berückendem Jugenddrama "Os famosos e os duendes da morte" erst Heimsuchungen aus der Vergangenheit abstreifen, bevor sich eine neue Perspektive öffnet. Während sich die Heldin von Urszula Antoniaks "Nothing Personal" praktischerweise nach ein bisschen Gartenarbeit schon in einem pittoresken irischen Inselhäuschen ins gemachte Bett legen kann.
Der Hauptpreis des 62. Filmfestivals von Locarno wurde am Wochenende schließlich an "She, A Chinese" vergeben, das Spielfilmdebüt der 1973 in Südchina geborenen und während ihres Studiums nach London ausgewanderten Filmemacherin und Schriftstellerin Xiaolu Guo. Eine verdiente Auszeichnung - zumal heuer eher kein Wettstreit formaler Erneuerungen auszumachen war.
Was gab es außerhalb der Konkurrenz um den Goldenen Leoparden noch so zu entdecken: Die seit 2000 in Berlin lebende Asli Özge gab in "Köprüdekiler/ Men on The Bridge" sympathisch forsche Einblicke in den Existenzkampf junger Istambuler, verkörpert von den realen Vorbildern der Figuren.
Der Katalane Marc Recha führte vor dem Hintergrund eines behutsam anerzählten Familiendramas in verschwindende proletarische Milieus, an Hunderennbahnen und zu Singvogel-Wettbewerben. Auch für den Protagonisten seines "Petit Indi" waren die Gewinnchancen gering.
Die Österreicherin Brigitte Weich porträtierte ehemalige Spielerinnen der nordkoreanischen Frauenfußball-Nationalmannschaft: Der Dokumentarfilm "Hana, dul, sed", entstanden in mehrjährigem Austausch mit den Protagonistinnen, beschreibt Triumph und Niederlage auf dem Spielfeld und begleitet gleichzeitig individuelle Lebenswege - sportlich wie privat die allgegenwärtige Maxime: dem Großen General zum Wohlgefallen. Die Franko-Senegalesin Dyane Gaye schließlich verarbeitete in "Un transport en commun" senegalesischen Straßenverkehrsalltag zu einem bündigen, Jacques-Demy-inspirierten Musical.
Davon abgesehen musste man sich in diesem Jahr ohnehin fortwährend zwischen zwei Festivals entscheiden, denn mit der Retrospektive hatte man eine regelrechte Parallelveranstaltung zu den übrigen Schienen installiert. "Manga Impact" ging dem Einfluss und Einschlag der japanischen Comic-Kultur (Manga heißen die gedruckten Bildergeschichten) aufs und ins Kino nach. Über 100 Animationsfilme und TV-Serienepisoden wurden gezeigt.
Die rarsten Belege, Anime aus der "Urgeschichte" der Jahre 1917 bis 1956, waren leider nur in den ersten Tagen des Festivals zu sehen. Aber auch ohne diesen Bezugspunkt präsentierten sich ein versatiles Medium und ebensolche Filmemacher. Zum Beispiel Eiichi Yamamoto, der als Regisseur den kindertauglichen Leinwandauftritt des weißen Löwen "Kimba" genau so verantwortete wie den unglaublichen Erwachsenenfilm "Belladonna of Sadness" aus dem Jahr 1973, eine von Jules Michelet inspirierte, psychedelisch delirierende, blutrote, frivole Moritat.
Der "Manga Impact" verzweigte sich bis hinein in die abendlichen Piazza Grande Aufführungen - mit dem brandneuen, vergleichsweise platten Rennfahrer-Tschinbumm "Redline" oder mit dem unglücklich spät angesetzten "Akira", jener Arbeit von Katsuhiro Otomo, die den Anime in den späten 80er-Jahren international einen gewaltigen Popularitätsschub versetzte.
Selbst im Wettbewerbsprogramm war erstmals ein Anime platziert: "Summer Wars" von Mamoru Hosoda feierte seine vom Publikum bejubelte internationale Premiere - eine dynamische Erzählung, die an den humanistischen Anspruch eines Hayao Miyazaki gemahnt und die das historische Samurai-Ethos mit einem erbitterten Machtkampf in einem sozialen Netzwerk im Internet kreuzt.
Insgesamt hatte man es jedoch mit einem Jahrgang zu tun, in dem die großen Highlights fehlten. Frédéric Maire, der vier Jahre lang als künstlerischer Leiter fungierte, wechselt nunmehr an die Cinematheque Suisse. Ob es seinem Nachfolger Olivier Père, der bisher die renommierte Quinzaine des Realisateurs in Cannes programmierte, gelingen wird, ein entsprechendes Line-Up auch für Locarno zu gewinnen und das altehrwürdige "Festival der Autoren" im anhaltend harten Konkurrenzkampf der europäischen Filmgroßveranstaltungen wieder schärfer zu profilieren, kann man 2010 überprüfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!