Film von James Benning: Vor dem Fahrplan sind alle gleich
Der Zug bremst, das Kapital rollt. Bennings Filme gelten als radikal reduzierte Kunstprojekte. Beim Eisenbahnfilm "RR" schlagen aber auch Herzen von Märklin-Liebhabern höher.
Es ist ein kleines Wunder, dass dieser Film überhaupt ins Kino kommt. Filme wie James Bennings "RR" laufen normalerweise eher auf Festivals. Auch wenn sich der Plot wie bei jedem guten Blockbuster in einem Satz erzählen lässt: 43 lange Kameraeinstellungen, jedes Mal fährt ein Zug vorbei. Kein Zoom, kein Schwenk, kein Schnickschnack. Dafür: konzeptuelle Strenge und viel Zeit, ein Film aus dem Grenzbereich zwischen Kino und Kunst. "RR" steht für "Railroad", ähnlich gelagerte Filme Bennings waren "13 Lakes" (er zeigte dreizehn Seen) und "10 Skies" (man sah zehn Ansichten des Himmels).
Tatsächlich ist dies aber ein Film für alle. Für die Funktionäre der Lokführergewerkschaft. Für die Märklin-Liebhaber. Für die Fallerhäuschen-Zusammenkleber. Für Trainspotter jeder Art. Für Pendler, die zweimal am Tag auf den schienengestützten Nahverkehr angewiesen sind. Für all die Gymnasiasten, die Fahrpläne auswendig lernen. Für Bahnchef Mehdorn. Für die Rentner, die stundenlang auf dem Rangierbahnhof Maschen dabei zuschauen, wie Güterwaggons verteilt werden. Für die letzten Streckenläufer genauso wie für Programmierer hochkomplexer Stellwerkssoftware. Für alle Väter, die zusammen mit ihren Söhnen schon einmal Pappmaschee-Gebirge auf Fliegendraht gepatscht haben, damit man etwas hat, wo der Modelleisenbahnanlagentunnel hineinführen kann. Und zwar nicht nur weil die Eisenbahn in "RR" vorkommt. Auch wegen der Art, wie sie vorkommt.
Jede Einstellung ist in "RR" anders, was passiert, ist immer das Gleiche. Die Kamera steht neben dem Gleisbett und zeigt die leere Schienenspur. Dann taucht irgendwo in der Ferne ein Zug auf, kommt näher und fährt an der Kamera vorbei. Dann ist er vorbei, die Kamera (und wir Zuschauer natürlich auch) schauen weiter auf die Gleise, die nun wieder leer sind. Dann kommt ein kurzes Schwarzbild, und das ganze geht von vorne los. Langweilig wird es nie, denn dieser immer gleiche Rahmen gibt Raum für riesige Unterschiede. Da sind die verschiedenen Landschaften, staubige Wüsten, grüne Wälder, heruntergekommene Fabrikhöfe, einmal sind wir mitten in der Stadt, wo ein schwerer Güterzug fast ungeschützt neben der Straße fährt. Es gibt Täler und Brücken, Küstenstreifen und Flüsse. Manche Züge fahren schnell, andere langsam.
Einmal ist der lang erwartete Zug nur eine kleine Draisine. Ein anderes Mal ist der Zug so lang, dass er erst unter einer Brücke durchfährt und verschwindet, um nach einer Weile ein Stockwerk höher von links wieder im Bild aufzutauchen - unten ist die Durchfahrt noch lange nicht beendet, da sieht man ihn oben auf dem Damm weiterfahren. Ein schönes Bild serieller Bewegung. So stellt man sich einen Verkehrsknoten vor!
Es sind fast alles Güterzüge, wir sind schließlich in den USA, wo die Eisenbahn immer schon vor allem ein Transportmittel für Güter war. Trotz aller Privatisierungsbeschlüsse ist die Bahn in der westeuropäischen Imagination ja immer noch ein Staatsunternehmen. In den USA war sie das nie. Es waren riesige Privatinvestitionen, die in den Bau des Schienennetzes flossen, und die mussten wieder reingeholt werden: Chicago war im späten 19. Jahrhundert vor allem deshalb die Welthauptstadt der Schlachthöfe, weil es dank der Großkundentarife der amerikanischen Eisenbahnen für texanische Rinderzüchter billiger war, die Tiere in einige tausend Meilen entfernt schlachten zu lassen.
Die Eisenbahn hat die amerikanische Landschaft ja nicht nur geprägt, indem sie Linien zum Horizont zog. Sie ist viel grundsätzlicher dafür verantwortlich, wie eine ganze Reihe von Landstrichen aussehen. Nicht alle "great plains" sind in ihrer Weite und Leere natürlichen Ursprungs. Vor der Eisenbahn waren Wisconsin, Michigan und Wyoming voll riesiger Wälder. Aber zum einen brauchte die Bahn selbst Holz, zum Verfeuern in den Lokomotiven wie für die Schwellen unter den Gleisen. Zum anderen ermöglichte das Schienennetz die Markteinführung eines bis heute erfolgreichen amerikanischen Verkaufsschlagers: des Holzhauses. Die archaische Gewalt dieser Ausbeutungsprozesse scheint man fühlen zu können, wenn einer jener riesigen Güterzüge im Bild erscheint, langsamer wird und unter mächtigen Erschütterungen zum Stehen kommt. Wer so einem Bremsvorgang lauscht, kann hören, wie die ursprüngliche Akkumulation die Materie zum Quietschen bringt!
Aber die Eisenbahn (und dieser Film) wären längst nicht so faszinierend, wenn sie nur technisches Hilfsmittel zur Kapitalanhäufung wäre. Ist sie nicht, im Gegenteil. In ihren besten Momenten steht sie für die Überwindung von alldem, für den Versuch einer Kollektivierung der industriellen Moderne, für die Utopie einer vernünftigen Planung wirtschaftlicher Abläufe. Im Zentrum: der Fahrplan, dieses großartige Instrument zur Koordination vernünftigen Ressourceneinsatzes. Für die Eisenbahn gibt es nur eine Welt, das heißt einen Raum und eine Zeit. Vor dem Fahrplan sind alle gleich.
Menschen sieht man in "RR" allerdings so gut wie nie. Die Welt, durch die sich die Güterzüge hier bewegen, kann man sich eher vorstellen wie einen dieser futuristischen Planeten, wo Maschinen die Arbeit übernommen haben. Sie graben Erze aus dem Boden, verschicken sie vollautomatisiert in riesige Stahlwerke, um dort neue die Bleche für noch mehr Maschinen herzustellen. Und das können dann durchaus Windräder sein: in der wunderschönen letzten Einstellung von "RR" sieht man einen Güterzug, der schier endlos braucht, um vor einem riesigen Feld voller Windräder zum Stehen zu kommen.
Eines kann man gegen diesen ansonsten perfekten Film allerdings einwenden: dass James Benning für die Tonspur die mustergültige konzeptuelle Strenge von "RR" aufgibt. Wirklich einleuchtend ist es nicht, warum er hier einen Woody-Guthrie-Song, Bibelzitate und die berühmte Rede von US-Präsident Eisenhower einspielt, in der er vor der Entstehung eines militärisch-industriellen Komplexes warnt. Das kommt einem vor wie ein Versuch zu vereindeutigen, wo das Besondere von "RR" doch gerade die Vieldeutigkeit ist.
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