FÜR MICH IST ABDUL DER INBEGRIFF DES WARMHERZIGEN LEBENS UND LEBENLASSENS, DAS VIELE BRASILIANERINNEN AUSZEICHNET : Abdul Hafiz El Kadri, Gemüsehändler und Volkspädagoge
NEBENSACHEN AUS PORTO ALEGRE
Mein Lieblingsgemüsehändler in Porto Alegre heißt Abdul Hafiz El Kadri. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Ismael führt der 58-jährige Kahlkopf den originellsten Tante-Emma-Laden in meinem Viertel. Mit runden Plastikschüsseln bedienen sich die Kunden aus dem reichhaltigen Obst- und Gemüseangebot, das vor dem Laden aufgebaut ist. Abdul wiegt, überschlägt und rundet stets großzügig ab. Besonders lecker sind die libanesischen Spezialitäten, die seine Mutter bis heute eigenhändig produziert: Kibes und Esfihas, also gut gewürzte Fleisch-Getreide-Klöße und Kleinstpizzen mit Spinat- oder Fleischbelag. Nach Brasilien kam Abdul 1955 als Kleinkind, auf einem Schiff mit vielen anderen Einwanderern, vor allem aus Italien. Nach seinem Ingenieurstudium übernahm er schließlich den Laden von seinem Vater, mit den Einkünften unterstützen die Brüder die Großfamilie in nah und fern.
Damals gab es in Porto Alegre überdurchschnittlich viele Juden und Deutschstämmige, inzwischen definiert man sich in erster Linie als Brasilianer. Das Zusammenleben funktioniert recht harmonisch, religiöse Toleranz wird großgeschrieben, offener Rassismus ist verpönt. Für mich ist Abdul der Inbegriff des warmherzigen Lebens und Lebenlassens.
Sein Markenzeichen jedoch sind die hintergründigen Sentenzen, die er mit Kreide auf die große Tafel neben dem Eingang schreibt, gegen korrupte Politiker, die Kriege in der arabischen Welt oder einfach über das Leben. Da sein Geschäft an einer vielbefahrenen Hauptstraße liegt, ist ihm Aufmerksamkeit sicher. „Ich will die Leute nicht attackieren, sondern zum Nachdenken und Schmunzeln anregen“, sagt Abdul, „leider ist unser Volk sehr ungebildet und leicht zu manipulieren“.
„Diejenigen, die von uns gehen, lassen uns nicht allein, die hinterlassen viel von sich und nehmen nur wenig von uns weg“ – mit dieser Weisheit fing vor Jahrzehnten alles an, erinnert er sich. Während des Militärregimes in den 80iger Jahren habe er sich einmal auf der Polizeistation für einen kritischen Spruch rechtfertigen müssen. Zehn Jahre später, als die linke Arbeiterpartei Aufbruchstimmung verbreitete, machte Abdul den Stadtoberen Olívio Dutra auf ein Dauerleck in der Kanalisation aufmerksam: „Hilfe, Bürgermeister: Wir stecken in der Scheiße“. Bald war Abhilfe geschaffen.