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Archiv-Artikel

FÜNF JAHRE RECHTSCHREIBREFORM: ALLE HABEN GEWONNEN Schluss mit dem Diktat

Seit fünf Jahren wissen wir nicht mehr, ob man „weiter gehend“ zusammen- oder auseinander schreibt, ob nach kurzem Vokal jetzt nie mehr ein „ß“ kommt und wann vor „und“ ein Komma steht. Vielleicht wussten wir das auch schon vorher nicht, vielleicht war das auch gar nicht Gegenstand der Rechtschreibreform. Aber genau das ist ihr großes Verdienst: Die Rechtschreibreform hat uns den Vorwand geliefert, so amüsiert wie genervt darüber zu motzen, dass man all das einfach nicht mehr wissen kann. Und darum können wir reinen Gewissens und nach Herzenslust Fehler machen, die keiner mehr erkennt. Toll.

Gewonnen haben dank der Rechtschreibreform einfach alle: die, die immer schon Fehler machten, sowieso. Aber auch die ehemaligen Einser-Schülerinnen und -schüler, die mit der Rechtschreibreform ihr symbolisches Kapital verloren, weil all das, was sie praktisch seit der Geburt aus dem Effeff beherrschten, plötzlich falsch sein sollte: Sie dürfen seit fünf Jahren darüber reden, dass sie einmal alles besser wussten. Das ist koketter und subtiler als die sonst gern erteilte Auskunft, dass sie übrigens immer noch alles besser wissen. Ansonsten machen sich die Streber natürlich einen Spaß daraus, den anderen solche Fehler nachzuweisen, die sie auch ohne Rechtschreibreform gemacht hätten: „Hineingehen“, liebe Leute, hat man früher schon zusammengeschrieben (zusammen geschrieben?). Auch für „draussen“ und „heissen“ gibt’s keine Entschuldigung.

Und was die heutigen Schülerinnen und Schüler angeht, so haben sie sowieso den Hauptgewinn gezogen. Die Lehrer kapitulieren und geben ihnen Recht: Wer gleichzeitg FAZ (alt) und taz (neu), Suhrkamp- (alt) und Kinderbücher (neu) liest, darf verwirrt sein. Der Kontrollverlust im öffentlichen Rechtschreibraum hat die Kultusministerien schon veranlasst, Rechtschreibung in den Bildungsplänen nicht mehr so hoch zu hängen. Diktate dürfen bald mit Nachschlagewerk geschrieben werden. Das haben alle Bildungsreformen der 1960er und 70er nicht geschafft: dass Sekundärtugenden endlich auf ihren Platz verwiesen werden – in die zweite Reihe, gleich hinter die Fähigkeit, Nachschlagewerke zu nutzen. ULRIKE WINKELMANN