FELIX LEE POLITIK VON UNTEN : Der erlahmte Demonstrant
Der ruhige Wahlabend weckt Befürchtungen: Kann Schwarz-Gelb tatsächlich einfach so durchmarschieren?
Der Abend des Wahlsonntags ist erstaunlich ruhig geblieben. Weder hat es im Hamburger Schanzenviertel gerumst noch in Berlin-Kreuzberg. Und auch in Leipzig-Connewitz ist es zu keiner spontanen Demo gekommen. Nur in Frankfurt/Main zogen am Sonntagabend 20 junge Menschen mit einem Transparent durch die Innenstadt auf dem stand: „Schwarz-Gelb? Nö, wir mögen’s sozial“.
Nicht dass es bei vergangenen Wahlen immer zu Demos oder gar Krawallen gekommen ist wie etwa in Frankreich, wo in der Nacht nach Nicolas Sarkozys Wahl noch einmal einige Dutzend mehr Autos brannten als in sonstigen Pariser Vorstadtnächten. Die letzte, an die ich mich hierzulande erinnern kann, war 1999 bei der Wahl von Roland Koch (CDU) in Hessen nach seinem dezidiert ausländerfeindlich geführten Wahlkampf. Doch dass es in Deutschlands linken Szenevierteln ausgerechnet dann besonders ruhig ist, wenn eine neue Regierung dem Neoliberalismus zu noch mehr Blüte verhelfen will, verwundert dann doch. Und das mitten in der größten Sozialkrise seit der Nachkriegszeit, bei der ausnahmsweise Verursacher und Nutznießer wirklich klar zu benennen sind.
Es dürfte mit dem schwierigen Verhältnis der Linken in diesem Land zum Parlamentarismus zu tun haben. Das hat sich trotz oder wegen des siebenjährigen rot-grünen Regierungsintermezzos keineswegs entspannt. Und auch nicht dadurch, dass die Linkspartei nun eine dauerhafte Kraft in den deutschen Parlamenten ist. Im Gegenteil: Bei weitem nicht mehr nur die Linksradikalen halten den gegenwärtigen Politikbetrieb für außerstande, die aus ihrer Sicht wirklich notwendigen Veränderungen anzugehen, und stehen deshalb Parteien und Wahlen gleichgültig gegenüber. Die Politverdrossenheit ist nun auch im ArbeitnehmerInnen-Milieu weit verbreitet.
Sicher, der Spruch, Wahlen könnten nichts verändern, mag angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse sogar tröstliche Wirkung entfalten. Aber stimmt er? Wenn das Signal des Wahlabends lautet, dass sich politisch auch auf der Straße kaum mehr etwas tut, dann kann Schwarz-Gelb wirklich durchmarschieren. Und das wäre ein noch größeres Desaster als die geringe Wahlbeteiligung.
Der Autor ist taz-Redakteur für soziale Bewegungen
Foto: Wolfgang Borrs