FALSCHE WAHL: HENRYK M. BRODER HAT DEN BÖRNE-PREIS NICHT VERDIENT : Beleidigung des Humanismus
Dass der Börne-Preis in diesem Jahr von Focus-Herausgeber Helmut Markwort im Alleingang an Henryk M. Broder verliehen wurde, spricht dem Namensgeber dieser Auszeichnung doppelten Hohn. Denn Ludwig Börne war ein glühender Verfechter der Pressefreiheit und sprach und schrieb davon, dass alle Menschen gleich seien – und auch gleich in ihrem Leiden anzuerkennen seien.
Welches Verständnis der Focus von Pressefreiheit hat, durfte ich selbst einmal erleben: In einer Rezension, die von der Redaktion angefordert worden war, schrieb ich, dass ein Deutscher heute schnell Gefahr laufe, als Antisemit abgestempelt zu werden, wenn er auf das schlimme Los der Einwohner von Gaza, des Westjordanlands oder Ostjerusalems hinweist. Und ich lobte das Buch „Ich will nicht mehr schweigen. Über Recht und Gerechtigkeit in Palästina“ von Rupert Neudeck, in dem dieser die israelische Besatzungspolitik kritisiert.
Wegen dieser Passage durfte die Rezension nicht erscheinen. Und Rupert Neudecks Buch konnte in Frankfurt nicht vorgestellt werden, weil die evangelische Kirche den dafür vorgesehenen Saal plötzlich nicht mehr zur Verfügung stellen wollte. Zuvor hatte der Frankfurter Historiker Arno Lustiger seine Freunde aufgerufen, die Veranstaltung, die israelische Fahne schwingend, zu stürmen und zu sprengen. Das mag nicht die gleiche Qualität haben wie die Absetzung der „Idomeneo“-Oper in Berlin. Aber es zeugt von der gleichen Verneinung eines freiheitlichen Geists.
Henryk M. Broder brandmarkt ständig alle und jeden, die sich um das Leiden der Anderen sorgen. Als Jude fühle ich mich verpflichtet, dieses Leid nicht zu ignorieren: So, wie ich mich nach 1945 verpflichtet fühlte, mich als jüdischer Franzose am Aufbau einer deutschen Demokratie zu beteiligen, damit das erlittene deutsche Leid der Bombennächte und der Vertreibungen nicht zu Selbstgerechtigkeit und zum Hass führen würde. Broder dagegen bekämpft, im Einklang mit fanatisch pro-israelischen Internetseiten wie „Honestly Concerned“, so aggressiv wie möglich alle, die nicht so denken und handeln wie er.
In meinem Beitrag, der vom Focus zensiert wurde, ging ich noch einen Schritt weiter: Weil es in Deutschland und Frankreich auch mutige Hilfe für Juden gab, stellte ich die Frage, ob es für heutige Juden deshalb nicht eine Verpflichtung sei, „an das Schicksal von anderen Unterdrückten und Verachteten zu denken“. Das heißt, sich als europäischer Jude auch für das Leid der Palästinenser empfänglich zu zeigen. Doch, wie es der israelische Schriftsteller David Grossman in seiner ergreifenden Grabrede für seinen im Libanon gefallenen Sohn Uri formuliert hat: „Es ist nicht cool, idealistisch zu sein. Oder ein Humanist. Oder wirklich sensibel zu sein für die Not des anderen, auch wenn der andere ein Feind auf dem Schlachtfeld ist.“
Helmut Markworts Entscheidung, Henryk M. Broder den Börne-Preis zu verleihen, missachtet diesen Humanismus. Er beleidigt damit jene Grundwerte, aufgrund derer Ludwig Börnes Name 1832 beim Hambacher Fest mit Begeisterung gefeiert wurde. Diese Werte bildeten die Basis der ersten deutschen Verfassung, die 1848 in der Frankfurter Paulskirche beschlossen wurde. Mit der diesjährigen Feier zur Verleihung des Börne-Preises in der Paulskirche wendet man sich von ihnen ab.
ALFRED GROSSER
Alfred Grosser, 83, ist Publizist und Politologe. Seine jüdische Familie emigrierte 1933 aus Nazi-Deutschland. Sein Wirken gilt der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen.