Ex-Sportlerin Schüller über Olympia: "Die Olympiaringe sind Handschellen"
Die Ex-Leichtathletin Heidi Schüller klagt die Bigotterie der Olympiafunktionäre an und erklärt, warum Sport hochpolitisch ist. Die teilnehmenden Athleten ruft sie zu zivilem Ungehorsam auf.
taz: Frau Schüller, das Internationale Olympische Komitee glaubt an Wandel durch Annäherung, an Demokratisierung durch Spiele. Ist das angesichts der Ereignisse in Tibet noch realistisch?
Heidi Schüller: Das würde vielleicht mit einer absolut freien Presse funktionieren, nicht in einem abgeschotteten System wie derzeit immer noch in China. Das IOC hätte von Anfang an darauf drängen müssen, dass die Pressefreiheit uneingeschränkt gilt. Die Sportfunktionäre des IOC haben sich nicht mit Ruhm bekleckert, auch nicht Herr Bach
Vizepräsident des IOC und Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Er sagt, der Sport solle nicht als politischer Knüppel gebraucht werden.
Der Sport ist politisch und oft missbraucht worden. Nehmen Sie nur die Spiele 1936.
Der Athlet fungiert als Manövriermasse?
Sie wurden und sie werden missbraucht. Heute werden Emotionen verkauft, Gefühle der Athleten werden zu Geld gemacht. Sie wissen doch meist gar nicht, welche Rolle sie in diesem olympischen Spiel spielen. Spitzensportler sind oft Egomanen, und sie sind sicher ein bisschen betriebsblind. Das ist gar nicht böse gemeint. Man ist als Spitzensportler extrem selbstbezogen und muss es auch sein, um erfolgreich zu sein.
Sind die Athleten nicht damit überfordert, als politische Akteure aufzutreten? Ihr Job ist es, in Form zu kommen, mehr nicht. Oder?
Der Sport ist ihre Profession. Viele leben davon, dass sie jedes Jahr neue Sponsorenverträge bekommen. Kriegen sie die nicht, sind sie weg - auch weil sie oft keinen anderen tragenden Job haben. Ich verstehe, wenn Aktive jetzt sagen: O Gott, kein Boykott. Ihre Existenz hängt an Olympia, an Medaillen und Rekorden. Die Sportler kämpfen auch um ihr Geld.
Gibt es deswegen keinen Sportler, der sich für einen Boykott der Spiele ausspricht?
Ja. Und das Wissen die Herren vom IOC auch. Zum Dank lassen sie die Sportler nicht angemessen partizipieren an dem Geld, das sie einnehmen. Das ist doch eine unglaubliche Geschichte! Das IOC hat ja so viel Geld angehäuft, dass sie sich finanziell einen Ausfall der Spiele leisten könnten. Das hat Thomas Bach selbst gesagt in einem Interview mit der "FAZ". Toll!
Naiv gedacht: Wenn das IOC Rücklagen gebildet hat, warum sagt es Olympia in Peking nicht einfach ab, man wäre der moralische Sieger?
Das werden die nie tun, von sich aus sicher nicht. Es war klar, dass es Unterdrückung und Gewalt in Tibet gibt und gab, aber dass die Repressionen so stark sind, das hat wohl auch das IOC überrascht. Der DOSB kommt freilich nur mit seiner Phrasendrescherei daher und glänzt durch vorauseilenden Gehorsam. Mir scheint, es geht dem Sportbund darum, die Diskussion ganz schnell im Keim zu ersticken.
Sollten Athleten in Peking demonstrieren, mit einem T-Shirt-Aufdruck etwa?
Das sollte jedem selbst überlassen bleiben. Ich als Athlet hätte das sicher ausprobiert, egal ob es Sanktionen oder eine Disqualifikation von den Olympischen Spielen gäbe. Einen Ausschluss müsste das Exekutivkomitee des IOC formal beschließen. Den Aufschrei der Weltöffentlichkeit würde ich gerne hören. Aber die Sportler sind ja so still, bis auf wenige Ausnahmen.
Was könnten Olympioniken noch tun?
Ich persönlich würde mich auch für Reporter ohne Grenzen stark machen und den Olympiasponsoren vor Ort sagen: Das ist die Organisation, der sie Geld geben sollten - auch in ihrem eigenen wirtschaftlichen Interesse.
Kann man so viel Courage von einem jungen, vielleicht 20-jährigen Sportler verlangen?
Nein, und trotzdem sollte jeder Olympionike wissen, dass er Teil einer Inszenierung ist. Er hat eine tragende Rolle. Die Athleten sollten sich nicht so klein machen und hinter ängstlichen Funktionären verstecken. Aber natürlich sind auch die weltweit agierenden Konzerne, die Olympia-Sponsoren gefragt. Ihnen sollte doch klar werden, in welchem Umfeld sie agieren. "Profit rules" und olympische Ideale passen nicht zusammen.
Aber nur auf den ersten Blick!
Das IOC macht glauben, es gehe um das Treffen der Jugend der Welt. Das ist doch ein Hohn! Das IOC präsentiert seine Marke, verkauft die Spiele und kassiert - auf dem Rücken der Athleten.
Allein der Fernsehvertrag von 2000 bis 2008 ging für 3,5 Milliarden Dollar weg.
Mit den Olympischen Spielen kann man richtig großes Geld machen. Bei den Spielen in Athen betrug die Nettowertschöpfung 10 Milliarden Dollar.
Werden die Spiele Ihrer Meinung nach also nur aus wirtschaftlichen Erwägungen durchgezogen?
Nicht nur, aber vorrangig. Im Moment symbolisieren die fünf Ringe eher fünf Handschellen. Im Laufe der Geschichte hat es das IOC freilich geschafft, diese Marke mit verkitschten, hehren Sprüchen und dem Nimbus, sich für die Jugend der Welt stark zu machen, aufzuladen. Sie verkaufen den Markenwert der Spiele an TV-Kanäle und Sponsoren, ohne dass es die Sportjugend groß merkt. Ein Athlet tritt mit der Qualifikation für die Spiele seine persönlichen Vermarktungsrechte auf Zeit ab - zum Nutzen des IOC.
Kommt es daher, dass das IOC einen ausgeprägten Riecher für neue Märkte hat: China, demnächst das russische Sotschi?
Mehr noch, sie setzen die kommenden Trends des Marketings und sie kreieren Zukunftsmärkte. Und sie wechseln im Vierjahresrhythmus das Land wie eine folkloristische Staffage. Es gibt Milliarden Menschen in entlegenen Gegenden, die noch nicht Adidas tragen, die noch keinen iPod und einen VW haben. Ich habe ja nichts dagegen, dass die Wirtschaft floriert, ganz im Gegenteil, aber das IOC soll seine Philosophie nicht so verlogen verkaufen.
Wenn Sie Imageberaterin des IOC wären, was müssten die Herren vom Olymp idealerweise in dieser verfahrenen Situation tun?
(Lacht) Sehr originell, das soll ich Ihnen jetzt kostenlos sagen. Das meinen Sie doch nicht ernst?
Doch, bitte.
Hm, mir würde sicher etwas einfallen.
Eine Verlegung der Spiele zum Beispiel?
Das kriegen die nicht mehr hin. Die Maschinerie läuft doch auf vollen Touren. Wenigstens denkt die Politik mittlerweile ein bisschen differenzierter über die Dinge. Nicolas Sarkozy (übernimmt im Juli den EU-Ratsvorsitz; d. Red.) mischt sich ein, Hans-Gert Pöttering (CDU-Politiker, Präsident des Europäischen Parlaments; d. Red.), ja selbst US-Präsident Bush hat sich eingeschaltet, sachte wohlgemerkt, weil die USA hoch verschuldet sind bei den Chinesen. Eine einheitliche europäische Haltung wäre nicht schlecht, ist aber wegen den Briten, Ausrichter der nächsten Sommerspiele, schwierig.
Was ist in Peking zu erwarten? Kleine Proteste von ein paar mutigen Athleten, Betreuern, Trainern, vielleicht ein Boykott der Eröffnungsfeier?
Den Boykott der Eröffnungsfeier halte ich für eine realistische und sehr effiziente Option. Der weitere Protest wird sich wohl in Grenzen halten. China wird als große Wirtschaftslokomotive gebraucht. Alles ist Wirtschaft. Auch Sport ist Wirtschaft. Aber wie wärs mal mit Wirtschaft und Charakter?
INTERVIEW MARKUS VÖLKER
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