: Ewig gestriger Blick auf Psychosen
betr.: „Fremde Welten im Kopf“ und „Schlechter Ruf“, taz vom 5. 4. 02
Grundsätzlich finde ich es gut, dass sich die taz gelegentlich mit den Themen psychische Erkrankung/Psychiatrie auseinander setzt. Bedauernswert ist aber die Ausrichtung der Artikel von Evelyn Hauenstein. Sie referiert bezüglich der Ursachen von Schizophrenie: „Möglicherweise liegt die Lösung des Rätsels in den Genen.“ Als mögliche Einflussfaktoren erwähnt sie auch Viruserkrankungen, Gehirnschäden und sogar Ernährungsgewohnheiten. Damit tut sie genau das, was viele ForscherInnen und PsychiaterInnen seit Jahrzehnten tun: Sie suchen die Ursachen überall, aber vermeiden mit erstaunlicher Konsequenz den Blick auf die Lebensgeschichte der Betroffenen. Der Stein der Weisen ist bezüglich der Ursachen von Psychosen bisher noch nicht gefunden, aber allein im organischen Bereich wird er sehr wahrscheinlich nicht liegen.
Es gibt erfreulicherweise seit einigen Jahren Forschungs- und Arbeitsansätze, die die Lebensgeschichte und auch mögliche Traumatisierungen der Betroffenen mit einbeziehen. Warum berichtet die Autorin nicht über solche Ansätze, zum Beispiel von der 4. Fachtagung des Universitätsklinikums Eppendorf in Hamburg, die gerade stattfand und die „subjektive Seite der Schizophrenie“ zum Thema hatte (Artikel im Eppendorfer 3/2002), oder von den seit Jahren an verschiedensten Orten stattfindenden „Psychose-Seminaren“, einer Veranstaltung von Betroffenen, Professionellen und Angehörigen?
Entsprechend geht es im zweiten Artikel hauptsächlich um Medikamente. Diese sind ohne Frage in vielen Fällen hilfreich, aber auch hier sehe ich eine falsche Schwerpunktsetzung. Soziale und psychische Faktoren sind bei der langfristigen Behandlung der Betroffenen mindestens genauso wichtig wie Medikamente. Vor allem geht es mir um Folgendes: Die Betroffenen leiden auch aufgrund von massiven seelischen Verletzungen. Dies zu tabuisieren und somit auch dem Betroffenen den Blick dorthin zu verunmöglichen, ist unprofessionell und muss schon fast als Grausamkeit bezeichnet werden.
Von AutorInnen der taz erwarte ich etwas anderes als den ewig gestrigen Blick auf die Krankheit, der von Angst vor den dahinter stehenden massiven Gefühlen, von Bequemlichkeit oder auch von Profitinteressen bestimmt wird. Ein Artikel, der für die tabuisierte Seite der Erkrankung Psychose und entsprechende hoffnungsvolle Forschungs- und Arbeitsansätze Öffentlichkeit herstellt, wäre stattdessen dieser Zeitung angemessen und als fortschrittlich zu begrüßen. HEIKE BETHE, Ellerbek
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