■ Europaparlament für Zollunion mit Türkei: Freie Fahrt für Raki
Vordergründig geht es um den freien Warenverkehr. Mit der gestrigen Zustimmung des Europäischen Parlaments zur Zollunion mit der Türkei können ab 1. Januar 96 die Laster rollen. Für die Europäische Union kommt damit ein Markt von 60 Millionen Menschen dazu, und die türkische Exportindustrie hofft nun endlich Textilien und andere Billigprodukte innerhalb der EU massenhaft losschlagen zu können. Ob die türkische Ökonomie, vor allem aber türkische ArbeitnehmerInnen letztlich davon profitieren werden oder aber die Arbeitslosenrate durch die Zollunion weiter hochgetrieben wird, ist völlig unklar. Kurzfristig wird die EU von der Zollunion sicher mehr profitieren als die Türkei. Tatsächlich geht die Entscheidung aber über die wirtschaftspolitischen Aspekte weit hinaus. Die Zollunion ist eine Teilantwort auf die Frage: Gehört die Türkei zu Europa oder nicht? Anders gefragt: Ist die Zollunion der Schlußstein der europäischen Integration der Türkei oder die Überwindung einer der letzten Hürden auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union?
Das Europaparlament und ein Teil der EU-Regierungen haben im Vorfeld der Entscheidung versucht, der türkischen Regierung für ihre Zustimmung zur Zollunion Zugeständnisse im Bereich der Demokratisierung und bei der Einhaltung der Menschenrechte abzuhandeln. Dieser Versuch ist weitgehend gescheitert. Die Verfassungsänderungen, die die Regierung Çiller nach langem Hin und Her letztlich verabschiedete, haben weitgehend kosmetischen Charakter, und die Antiterrorgesetzgebung hat die halbe kurdische Bevölkerung nach wie vor fest im Blick. Der Mißerfolg heißt aber nun nicht, daß man gegenüber der Türkei grundsätzlich nichts bewegen kann. Entscheidend ist, ob die Drohung und das Angebot glaubwürdig sind. Genau daran hapert es. Während die Türkei offiziell immer noch auf dem Weg nach Brüssel ist, wird inoffiziell kein Hehl mehr daraus gemacht, daß das Land keine Chance hat, im Club der Reichen Vollmitglied zu werden. Das islamische Entwicklungsland passe einfach nicht nach Europa – kulturell nicht und ökonomisch auch nicht. Wie will man schließlich Marokko heraushalten, wenn man die Türkei hineinlasse?
Solange die EU in Ankara mit gezinkten Karten spielt, ist klar, daß sie nichts durchsetzen kann. Die Zollunion allein, auch Tansu Çiller weiß das, ist für die EU mindestens genauso interessant wie für die Türkei. Wegen Menschenrechtsverletzungen wird man in Brüssel nicht aufs Geschäft verzichten. Jürgen Gottschlich
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen