■ Erstmals wählte Rußland unter freien Bedingungen: Jelzin sitzt in der Klemme
„Nicht wer wie was wählt, wer zählt ist von Belang“, soll Stalin einmal zum Thema Wahlen Grundsätzliches gesagt haben. Zum erstenmal hat Rußland unter freien Bedingungen nun gewählt. Der Souverän hat entschieden, nicht wie gewünscht, aber immerhin. Befürchtungen, Geschrei, Gezeter und Mordio, Rußlands Urnengang wäre eine Farce ungleicher Chancen, kamen gleichermaßen aus den unterschiedlichsten Ecken. Die Faschisten sahen sich im Nachteil, die Kommunisten selbstverständlich auch – sie sind immer die Gebeutelten – und nicht zuletzt die internationalen Experten der Beobachtung. Nicht gemeint sind die Wahlbeobachter, denn die hatten am Wahlablauf keine wesentlichen Beanstandungen vorzutragen. Zum erstenmal dürften ausgezählte mit abgegebenen Stimmen kongruieren. Auch schon eine demokratische Errungenschaft.
Das hysterische Geschrei um die mangelnde Demokratie seit Niederschlagung des Oktoberputsches bescherte dem „eigentlichen Totengräber der Demokratie“ Boris Jelzin ein Parlament, in dem Faschisten und Rotbraune eine Mehrheit bilden können. Rußlands Wahl war ein Musterbeispiel an Chancengleichheit, wie es sich kaum eine westliche Demokratie, insbesondere nicht die bundesrepublikanische gestattet.
Der autoritäre Jelzin sitzt in der Klemme. Wie in Zukunft mit diesem Parlament umgehen? Es ist demokratisch legitimiert. Soll er seine verfassungsrechtlichen Vollmachten bis zum Ende ausreizen? Soll er die Faschisten einfach verbieten? Handhabungen böte die neue Verfassung. Oder soll er sich auf einen Kuhhandel mit ihnen einlassen und einige von ihnen an den Regierungstisch bitten? Vielleicht Schirinowski persönlich in der Funktion des neuen Außenministers fürs „nahe Ausland“ – dahinter verstecken sich die ehemaligen Satelliten. Wir hätten dann zumindest unsere buchstabengetreuen demokratischen Spielregeln und die Welt einen neuen Superkonflikt.
Jelzin steht echt auf dem Schlauch. Nun kann er nicht einfach mehr so tun, als läge ihm etwas an Demokratie. Die Welt will von ihm Beweise sehen. Und Demokratiefähigkeit erweist sich am Umgang mit Minderheiten... Mit Antisemiten, Selbstjustizlern und hungrigen Imperialisten. Wir sind bekanntlich dem Osten da um Jahre voraus.
Um die Demokratie nach unseren Standards zu sichern, dürfte Jelzin vor einem Verbot, sollten sich die Faschisten nicht zähmen lassen – was aber anzunehmen ist –, nicht zurückschrecken. Womöglich wird man an seiner Entschiedenheit in dieser Frage das nächste Mal sein Demokratiepotential bemessen. Der hinterlistige und machthungrige Jelzin mit seiner autoritären Verfassung wird künftig in der Presse eine Metamorphose durchlaufen: Er wird zum „Garanten der Rechtsstaatlichkeit“ und einzigen Kraft, „die die Institutionalisierung der Demokratie in Rußland betreibt“. So oder ähnlich wird es dann klingen. Das war er schon immer – für sich genommen. In letzter Zeit hat er sich nur zu demokratisch gegeben. Rußlands junge Demokratie steht trotz allem nicht auf dem Spiel. Die Erfolge der Faschisten lassen sich nicht bestreiten. Sie liegen bei einem Fünftel der Wähler. Bei den nächsten Wahlen kann es jedoch schon ganz anders aussehen. Schließlich haben sich über 60 Prozent der Wähler gegen das Autoritäre und wider das Alte ausgesprochen. Das sollte nicht übersehen werden, egal wie wirr sich das Chaos in Moskau noch gerieren wird. Klaus-Helge Donath, Moskau
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