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Erica ZingherGrauzoneSchreibend die Welt ein bisschen zusammenhalten

Foto: Stephanie Loos

Ich weiß nicht mehr, worauf wir gewartet hatten. Ich weiß nur, dass plötzlich etwas nicht mehr stimmte. Ein Mann war an uns vorbeigelaufen, etwas an seiner Haltung, seinem Blick, ließ mich aufstehen. Auch mein Tschechischlehrer folgte ihm – erst wortlos, dann mit einem aufgeregten „Entschuldigung“. Wenige Minuten später war alles anders. Der Mann war nicht mehr.

In unserem kleinen Tschechischkurs, in mir, war nichts mehr wie vorher. Für mich ist die Sprache, die wir lernten, das Tschechische, bis heute mit diesem Erlebnis verbunden.

Ich erinnere mich an die Tage danach, in denen ich mich wie aus der Welt gefallen fühlte. Ich lief einsam durch die Hamburger Innenstadt, in einen Buchladen, und griff, ohne zu wissen warum, zu einem Roman von Jiří Weil: „Mendelssohn auf dem Dach“. Ein Name, der mir bis dahin nichts sagte. Ich nahm das Buch mit, da ich mich zum Tschechischen hingezogen fühlte, weil es mich in diesem Ausnahmezustand irgendwie berührte, noch bevor ich eine Seite gelesen hatte.

Jiří Weil: jüdisch-tschechischer Schriftsteller, überzeugter Kommunist, während der stalinistischen Säuberungen verbannt, unter deutscher Besatzung entrechtet. Die Nationalsozialisten zwangen ihn in die Identität Georg Israel, seine Scheinehe schützte ihn nicht mehr. Um der Deportation zu entgehen, täuschte Weil einen Suizid vor – und lebte anschließend versteckt in Prag, halb verhungert, zwischen Leben und Tod.

Damals, im Buchladen, wusste ich all das nicht. Und doch schließt sich rückblickend ein seltsamer Kreis. Ein Zufall, der sich in mir festgesetzt hat. Sein Roman, seine Geschichte – sie heilten nicht, aber sie hielten mich.

Viele Jahre später begegnete mir Weil wieder, als Figur in Maxim Billers neuer Novelle „Der unsterbliche Weil“.

Ein poetisches Kunstwerk, durchbrochen von melancholischen Fotografien. Wir begleiten einen Mann in seinen Erinnerungen, der kurz vor seinem Tod steht. Biller bringt einen Vergessenen zurück, einen, dem zu Lebzeiten wie posthum Ruhm verweigert blieb. Eine literarische Reflexion über das Überleben eines Schriftstellers und die Frage: Warum überhaupt schreiben? Für mich hat sie eine Zeit wiederbelebt, in der Sprache für mich selbst zum Riss wurde.

Was bedeutet Schreiben also in unmenschlichen Zeiten?

Hier ­erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Geraschel“ von Doris Akrap

Biller schrieb nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, er wolle keine Literatur mehr schreiben, seine Arbeit erscheine ihm nutzlos. Ich dachte an ukrainische Autoren, mit denen ich nach dem 24. Februar sprach. Viele sagten, sie konnten nicht schreiben, weil das Grauen alles überlagerte. Auch die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev berichtete nach dem 7. Oktober, das Schreiben sei ihr abhandengekommen. Nur Schmerz. Und Sprachlosigkeit.

Es gibt Menschen, die Schreiben als Widerstand sehen, als politischen Akt. In Billers Novelle glaubt Weils ehemaliger Freund Julius Fučík daran, „dass man die Welt mit Worten verändern kann“. Solche Menschen sind vielleicht weniger Schriftsteller als Aktivisten.

Erzählen, wie schön alles ist, auch wenn es schrecklich ist

Auch Weil hat den Drang zu schreiben, will zurück zu seinem „neuen Manuskript“. Aber er glaubt nicht an Veränderung. Nur daran, dass man die Welt „ein bisschen zusammenhalten“ könne. Und „erzählen, wie schön alles ist, auch wenn es schrecklich ist“. Ein ehrlicher, melancholischer Gedanke.

Jiří Weil hat mich damals begleitet. Ein Zufall, wahrscheinlich, dass ich genau ihn fand. Vielleicht habe ich aber auch unbewusst nach Literatur gesucht, die hält, wenn sonst nichts mehr trägt. Schreiben ist keine politische Demonstration. Es geht nicht darum, perfekte Lösungen zu finden, sondern darum, das Aushalten zu teilen. Schreiben ist, glaube ich, ein großes Ringen mit sich selbst. Und für manche: das Einzige, was bleibt.

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