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Erica ZingherGrauzoneChaim Nachman Bialik: Geschichten wie das Leben selbst

Foto: Stefanie Loos

Es gibt Bücher, die einen mit einer gewissen Wucht treffen, und solche, die wie ein leises Plätschern sind, sanft in die eigene Welt dringen und genauso wieder verschwinden. Chaim Nachman Bialiks „Wildwuchs“ gehört zur ersten Kategorie. Eine Auswahl seiner Novellen ist erstmals auf Deutsch erschienen. Was ein Glück!

Von Bialik habe ich schon einmal erzählt. Diesem großen jüdischen Dichter und Schriftsteller, der ein Nationalstar war, noch bevor Israel überhaupt gegründet wurde. Bialik war es, der das erste Pogrom gegen Juden Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Gedicht „In der Stadt des Tötens“ beschrieb. Der die kaum aushaltbaren Grausamkeiten, den Tod, den Sadismus der Täter präzise in Poesie goss, die Mörder benannte, und dabei aber nicht zimperlich war mit den jüdischen Männern, die nicht eingriffen, als ihre Frauen vergewaltigt wurden.

Eine Nation gründet sich nicht nur auf Werte, Überzeugungen. Sie braucht nicht nur Menschen, sondern eine gemeinsame Sprache, Worte, ja, auch Literatur. Das verstand Bia­lik früh und wurde so zum Pionier der hebräischen Sprache. Der im heute ukrainischen Schytomyr aufgewachsene und streng religiös erzogene Dichter befreite das Hebräische, das bis dahin als religiöse Gebetssprache und zum Thorastudium genutzt wurde, von seiner dicken Staubschicht, machte es alltagstauglich, quasi säkular und formulierte für die Juden von damals damit eine Zukunft. Diese hieß: raus aus dem Schtetl, raus aus Osteuropa, hin ins Gelobte Land, nach Palästina. Eine eigene Nation sollte her.

Gleichgesinnte für seine Ideen fand er in Odessa, damals eine kosmopolitische Stadt, wenn man so will, ein Ort jüdischer Utopie. Denn in Odessa wurden schon lange vor Theodor Herzl zionistische Gedanken gesponnen, Texte geschrieben, wurde eine Bewegung formiert.

Bialik war ein scharfsinniger, herausragender Beobachter. Jemand, der am Rande stand, mit Stift und Zettel. Oder vielleicht doch mittendrin, Teil des Geschehens, aber nicht unbedingt beteiligt. Er war kein politischer Aktivist, seine Visionen formulierte er nicht als flammende Pamphlete, sondern als Gedichte. Bia­lik war Dokumentarist, ein Schriftsteller mit Visionen, wie man ihn sich auch heute wünschen würde.

Hier ­erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Geraschel“ von Doris Akrap

Weil er ein großer Autor ist, beeindrucken seine Texte heute noch: mit einer so klaren, kraftvollen Sprache und der Fähigkeit, persönliche und gesellschaftspolitische Fragen miteinander zu Geschichten zu verweben. „Hinter dem Zaun“ zum Beispiel kann als erotische Geschichte gelesen werden: zwischen dem jüdischen Jungen Noah und dem russischen Mädchen Marinka. Eine Liebe, die nicht sein darf. Oder als großes Ringen um die Frage, ob Tradition mehr wiegt als das weltliche Leben. In der Erzählung entscheidet sich Noah für die Familie, gibt der traditionellen Erziehung nach und lässt das russische Mädchen hinter dem Zaun zurück. Ob er weiß, dass Marinka ein Kind von ihm bekommen hat? Das bleibt offen.

In seinen Novellen erzählt Bialik von dem Vergangenen, von Dörfern seiner Kindheit, einer jüdischen Welt, die er als Junge verlassen hat und die trotzdem in ihm weiterlebt, ihn nicht loslässt. Was heißt Aufbruch in ein neues Leben, ein neues Land? Können wir die Vergangenheit abschütteln? Gerade das ist die Stärke seiner Texte. Sie beschreiben universelle Gefühle und Fragen, die über die jüdische Erfahrung hinausgehen.

Eine Nation gründet nicht nur auf Werte. Sie braucht Literatur

Bialiks Texte tragen mich und halten mich in einer Welt, die sich anfühlt, als würde sie täglich an Stabilität verlieren. Und trotzdem wundere ich mich, was Bialik wohl heute beobachten würde. Wie er die Welt, die Grausamkeiten beschreiben und welche Zukunft er sehen würde. Eine Frage, die ohne Antwort bleiben wird. Wie auch seine Texte oft uneindeutig enden. So wie das Leben eben selbst.

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