Einwanderung: Minderjährige ohne Schutz
2009 kamen extrem viele minderjährige Flüchtlinge nach Schleswig-Holstein. Hilfsorganisationen monieren Unterbringung in Sammelunterkünften und fordern Clearingstelle. Positive Signale von CDU und FDP.
Sie kommen per Boot oder mit Lastwagen, viele sind nach ihrer monatelangen Odyssee krank, erschöpft und leiden Hunger: Immer wieder werden an den Häfen oder auf den Autobahnen in Schleswig-Holstein minderjährige Flüchtlinge aufgegriffen. Das Problem ist bekannt, doch im Jahr 2009 ist die Zahl der Jugendlichen deutlich in die Höhe geschnellt. Bereits im Oktober waren es gut 300, dreimal so viele wie im Vorjahr. Flüchtlingsorganisationen hoffen jetzt auf eine Clearingstelle, die sich der illegal eingereisten Jugendlichen annimmt. Von der schwarz-gelben Landesregierung gibt es dazu positive Signale.
"Die Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist bundesweit gestiegen, aber in Schleswig-Holstein noch über dem Schnitt", sagt Martin Link vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. Viele der Flüchtlinge stammen aus Afghanistan, dem Irak oder dem Gaza-Streifen - aus Krisenregionen bzw. Kriegsgebieten. "Die Jugendlichen, häufig junge Männer, wollen der Gewaltspirale entgehen", sagt Link. Manche von ihnen wurden auf der Flucht von Verwandten getrennt, andere schickte man allein auf den Weg ins vermeintlich sichere Europa. Viele der Jugendlichen seien nur auf der Durchreise, sagt Link: "Sie wollen selten in ein bestimmtes Land, sondern dorthin, wo sie Verwandte oder Bekannte haben."
Werden die Jugendlichen in Deutschland aufgegriffen, landen sie häufig in den Sammelunterkünften für Asylbewerber, etwa in einer ehemaligen Kaserne in Neumünster. Korrekt sei das nicht, sagt Krystyna Michalski, die beim Paritätischen Wohlfahrtsverband für Flüchtlingspolitik zuständig ist: "Jugendliche unter 18 Jahren fallen in den Bereich der Jugendhilfe, nicht des Ausländerrechts." Die Praxis sehe aber oft anders aus - mit dem Ergebnis, dass die Jugendlichen mit fremden Erwachsenen zusammenleben müssten und wie diese gezwungen seien, nach zwei Wochen einen Asylantrag zu stellen. "Dabei widersprechen Jugend- und Ausländerrecht einander", sagt Michalski. "Jugendliche gehören nicht in eine Sammelunterkunft: Sie sollen zur Schule gehen und die Chance haben, sich zu erholen."
Zwischen 5.000 und 10.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben in Deutschland, davon 300 bis 500 ehemalige Kindersoldaten. Laut UN-Kinderrechtskonvention müssen die unter 18-Jährigen zwar bereits seit dem Jahr 2005 von den Jugendämtern in Obhut genommen werden. In Schleswig-Holstein sehe die Praxis aber anders aus, moniert der Verein Lifeline.
Über das Alter der Flüchtlinge entschieden die Jugendämter oft "nach Augenschein", oft zu Ungunsten des Flüchtlings, der so oft in Abschiebehaft lande. Das aber sei nur statthaft, wenn es keine andere Unterbringungsmöglichkeit gebe.
Die Betreuung der Jugendlichen nach der Abschiebung in ihr Herkunftsland werde von schleswig-holsteinischen Behörden weder organisiert noch sichergestellt.
In Schleswig-Holstein kümmert sich unter anderem der Verein Lifeline um die Minderjährigen. Einige Haupt- und zahlreiche Ehrenamtliche übernehmen die Vormundschaft für Jugendliche, kümmern sich um die Behördentermine, schalten bei Bedarf Rechtsanwälte ein und sorgen für eine angemessene Unterbringung.
Flüchtlingsorganisationen verlangen seit Jahren, dass das Land zusätzlich eine Clearingstelle einrichtet, die sich um die Jugendlichen kümmert und die in anderen Bundesländern bereits existiert. Hier würde bereits vor dem Asylverfahren geprüft, wie die Chancen auf Bleiberecht stünden, sagt Martin Link: "Dafür ist ein Paradigmenwechsel angesagt, denn die Ausländerbehörden haben in der Regel wenig Interesse daran, dass jemand gut vorbereitet ins Verfahren geht." Da es aber um Kinder und Jugendliche mit besonderem Recht auf Schutz gehe, sei eine spezielle Betreuung durchaus angemessen: "Es muss geprüft werden, welches die Fluchtgründe sind und ob Gefahr von der eigenen Familie ausgeht - vor allem für Mädchen." Die Clearingstelle solle außerdem bundes- und EU-weit nach Verwandten suchen und Familien zusammenführen.
Die Chancen, eine solche Stelle einzurichten, sind gestiegen: Im Koalitionsvertrag erklären CDU und FDP, sie wollten die Möglichkeiten hierfür prüfen. Anfang 2010 will sich Sozialminister Heiner Garg (FDP) mit Fachleuten der Ausländer- und Jugendbehörden sowie Flüchtlingsorganisationen treffen. "Eigentlich kann es schnell gehen", sagt Martin Link. "Kompetente Leute und Strukturen sind vorhanden."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers