: Eine zusätzliche neue Benachteiligung
■ Thesen der Sozialwissenschaflerin Ilona Ostner zum Pflichtjahr (vgl. S.25)
Warum gibt es einen „Pflegenotstand“ in der Bundesrepublik und warum wird das Pflichtjahr als mögliche Lösung diskutiert? Für die Sozialwissenschaftlerin Ilona Ostner von der Abteilung „Geschlechterpolitik im Wohlfahrtsstaat“ vom Zentrum für Sozialpolitik ist das in erster Linie eine Konsequenz der „Logik deutscher Sozialpolitik“:
Durch die niedrige Geburtenrate und die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen gibt es weniger Töchter und Schwiegertöchter, die für die Pflege kranker und schwacher Familienangehöriger zur Verfügung stehen. Andererseits steigt die Lebenserwartung und damit auch die Zahl pflegebedürftiger Menschen (vor allem Frauen).
In der Diskussion um das Pflichtjahr geht es nicht um den Ersatz fehlender bezahlter Pflege, sondern der unbezahlten, für die Gesellschaft kostenlosen Betreuung, meist durch Frauen. Eine Expansion der sozialen Dienste würde die Bezahlung ehemals unbezahlter Leistungen bedeuten.
Stattdessen sollen durch ein Pflichtjahr alle jungen Frauen schon vor Eintritt in die Familienphase zu pflegenden Töchtern und Schwiegertöchtern vergesellschaftet werden. Was die einzelne Frau möglicherweise später nicht mehr freiwillig oder aus Pflichtgefühl heraus tun würde, sollen im Pflichtjahr alle Frauen zumindestens für kurze Zeit für beliebige andere erbringen. Damit bleibt die kostenlos pflegende Frau als Eckpfeiler deutscher Sozialpolitik der Gesellschaft erhalten.
Kern der Logik deutscher Sozialpolitik ist die Sicherung des Mannes als „Normalerwerbstätigem“, der als Ehemann und Vater die Frauen in der Familie unterhält (Frauen sind also immer nur abgeleitet über den Mann versorgt). Sie haben als Gegenleistung die Aufgabe, alte und schwache Familienmitglieder unbezahlt zu betreuen. Weil dieses Prinzip in der Vergangenheit so gut funktioniert hat, verfügt der bundesdeutsche Sozialstaat über ein sehr niedriges „Dienstleistungsprofil“, hat also kaum Kinderkrippen, öffentliche Kantinen usw. aufgewandt.
Zugleich bröckelt die eheliche Subsidiarität. Die Ehe hat ihre Funktion als lebenslange Versorgungseinrichtung für Frauen in Kompensation für mangelnde Integration in den Arbeitsmarkt und kostenlose häusliche Pflege weitgehend verloren.
Das bedeutet zusammenfassend, daß Frauen in Zukunft
-durch das Pflichtjahr fremde Hilfsbedürftige zwangsförmig pflegen müssen ohne daraus Geld für ihre soziale Absicherung ziehen zu können — nach wie vor die Ehe, den Ehemann zu ihrer eigenen Versorgung brauchen, ihn also auch versorgen werden, immer häufiger jedoch als Freundin, vorübergehende Ehefrau jenseits seiner Unterhaltspflicht;
-unter Bedingungen erwerbstätig sein müssen, die auch in nächster Zukunft unterstellen, Frauen seien zumindestens auf lange Sicht zuhause und versorgt;
-nach wie vor wenigstens ein Kind unter Bedingungen versorgen, die unterstellen, Frauen seien zuhause und versorgt.
Fazit: Das soziale Pflichtjahr benachteiligt die ohnehin Benachteiligten nun auf neue Weise — verallgemeinernd und zusätzlich.
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