: Eine unfreiwillige Abenteuerreise
LITERATUR In Mathias Énards überzeugendem Roman „Straße der Diebe“ fungiert ein junger Marokkaner als Chronist der jüngeren Gegenwart – von den arabischen Revolutionen bis zur europäischen Wirtschaftskrise
VON ELISE GRATON
Kaum gelandet in der deutschen Hauptstadt kaufte sich der französische Schriftsteller Mathias Énard ein Fahrrad: „Berlin ist schön flach, man kann lange Strecken zurücklegen, ohne sich verausgaben zu müssen“, freut er sich. Énard hält sich derzeit auf Einladung des DAAD ein Jahr lang in Berlin auf. Barcelona, wo er seit 2000 lebte, sei für unbeschwertes Radeln viel zu hügelig, der dortige Straßenverkehr außerdem nicht ganz ungefährlich.
„An sich hatte ich zu Barcelona weder ein spezielles Verhältnis noch großes Interesse“, erinnert er sich. Weil aber seine Lebensgefährtin eine Stelle an der dortigen Universität bekam, zog er einfach mit. Die zehn Jahre zuvor hatte Énard in Ägypten, Syrien, dem Libanon und im Iran verbracht. Das passte schon eher zu seinem bisherigen Werdegang: Am Pariser Staatsinstitut für orientalische Sprachen und Zivilisationen studierte er Arabisch und Persisch.
Ein junger Sniper
Doch erst in Spanien fing seine Laufbahn als Schriftsteller an, als er seine Interviews, die er mit libanesischen und iranischen Kriegsveteranen geführt hatte, auszuwerten begann. „Ursprünglich hatte ich eine wissenschaftliche Arbeit über die Erzählung von Kriegsgewalt geplant“, so Énard. „Aber die Form erschien mir schon bald nicht mehr passend.“ Das gesammelte Material verdichtete er zu einem eindringlichen Einzelbericht: Sein Debütroman „La perfection du tir“ („Die Vollkommenheit des Schusses“ – noch nicht auf Deutsch erschienen) erzählt den langjährigen Bürgerkrieg in einer namenlosen Stadt – vermutlich Beirut – aus der Sicht eines jungen Snipers.
Lakhdar, die Hauptfigur und zudem Ich-Erzähler seines neuesten und mittlerweile sechsten Romans, „Straße der Diebe“, nimmt seinerseits die heutige Gegenwart ins Visier – von den arabischen Revolutionen bis zur europäischen Krise. Der junge Marokkaner aus Tanger ist allerdings kein Killer, sondern ein einfacher, planloser Bursche, dessen bescheidene Vorstadtexistenz ins Schwanken gerät, als er eines Tages beim heimlichen Liebesspiel mit seiner Kusine erwischt wird. Voller Scham rennt der 17-Jährige von zu Hause weg, lebt zwei Jahre lang in bitterer Armut auf den Straßen Marokkos, bis ihm eine islamistische Gruppe wohlwollend unter die Arme greift.
Für die islamistischen Machenschaften der Gruppe und deren Gedankenwelt hat Lakhdar zwar wenig übrig, aber er bekommt erst mal ein Dach über den Kopf, eine unanstrengende Stelle als Buchverkäufer und die Möglichkeit, sich vorübergehend von der Gosse zu erholen. Die Zeit nutzt er hauptsächlich für seine wahre Leidenschaft: das Lesen, vor allem französischer Krimis. Doch dann breitet sich die in Tunesien ausgebrochene Protestwelle bis nach Marokko aus und ein zweites Mal läuft sein Leben aus dem Ruder.
Mathias Énard begann die Arbeit an „Straße der Diebe“ im September 2011, nur wenige Monate nachdem sich die Arabische Revolution ohne Vorwarnung ausbreitete, Land um Land erfasste und dabei nie wirklich klar einschätzbare Konturen annahm. „Die Ereignisse der arabischen Welt gingen mir sehr nahe, und ich wollte versuchen, ob man mit den Mitteln der Literatur auf diese unmittelbar reagieren kann“, so Énard.
Der Durchbruch
Dass der Schriftsteller sich vor ambitionierten Projekten nicht scheut, hat er bereits eindrucksvoll bewiesen. Sein Roman „Zone“ aus dem Jahr 2008 bestand aus einem einzigen, über 500 Seiten langen Satz ohne Punkt, der den inneren Monolog eines Kriegsveteranen aus Jugoslawien darstellte. Der Agent des französischen Geheimdienstes will dem Vatikan einen Koffer voller gestohlener Geheimdokumente über europäische Kriegsverbrecher übergeben, bevor er der Welt der Spionage endgültig den Rücken kehrt. Während der 500 Kilometer langen Zugfahrt von Mailand nach Rom entfaltet sich Seite um Seite nicht nur die Bilanz einer bewegten Existenz – für Énard dient sie zum literarischen Vorwand, sämtliche Henker und Opfer aller Kriege des Mittelmeerraumes einzubestellen. Seine düstere Freske menschlicher Barbarei brachte dem 1972 im französischen Niort geborenen Autoren den internationalen Durchbruch.
„Weil mir für ‚Straße der Diebe‘ der historische Abstand fehlte, stellte ich ihn geografisch her“, erklärt Énard. „Marokko lag an der Peripherie der Ereignisse.“ Der Arabische Frühling erreichte das Land erst im Februar 2011 – und auch nur für kurze Dauer: Der königliche Palast reagierte schnell mit Reformen, die die Wut auf der Straße erfolgreich besänftigte. Außerdem passte für den Roman die Nähe Tangers zu Spanien, da es dort auf der anderen Seite des Mittelmeers ebenfalls zu massiven Demonstrationen kam, allen voran durch die Bewegung der „Indignados“ (der Empörten).
Énards sezierendes Abschreiten der brenzligen und undurchschaubaren Umbrüche auf beiden Seiten des Mittelmeers spiegelt sich in Lakhdars verschlungenem Weg von Tanger bis nach Barcelona wider. Aus Not lässt er sich von Islamisten und Profitjägern instrumentalisieren, stolpert von einer Sackgasse in die nächste. Doch der eigensinnige Jugendliche will sich nicht fügen, tritt immer wieder von Neuem die Flucht an: „Wie der Seiltänzer die Möglichkeit eines Absturzes ausblenden muss, damit er sich auf seine Schritte konzentrieren kann […], stapfte ich weiter […], mit tierischem Riecher witterte ich den nahenden Sturm, der über mich hereinbrechen, in mir losgehen würde, und vergaß ihn gleich wieder beim Versuch, die Leere hinter mir zu lassen.“
Wenn überhaupt, so hat Lakhdar auf seiner Reise nur ein Ziel vor Augen: Judit, eine Arabistik-Studentin aus Barcelona, die ihm in Tanger über den Weg läuft. Erst die Touristin ist es, die Lakhdar die Schätze seiner eigenen Geschichte und Kultur vor Augen führt: „Judits Tanger war nicht dasselbe wie meines. Sie sah die internationale, die spanische, französische, amerikanische Stadt; sie kannte Paul Bowles, Tennessee Williams oder William Burroughs, so viele Schriftsteller [die in Tanger gelebt haben – Anm. d. Autorin], von denen ich überhaupt nichts kannte. Nicht einmal Mohamed Choukri, eine Persönlichkeit aus Tanger, den ich zwar einordnen konnte, von dem ich aber natürlich nie auch nur eine Zeile gelesen hatte.“
Lakhdars Liebe zur Literatur ist es dann auch, die ihm auf der Reise unverhoffte Türen öffnet. Sie ist der Freiheitsraum, in dem er vor der eigenen Realität Zuflucht findet. All die Bücher, die ihn unterwegs begleiten, ob Choukris „Das nackte Brot“ aus dem Jahr 1980, jene ungeschönte Erzählung der eigenen Kindheit auf der Straße, die Reiseberichte des im 14. Jahrhundert in Tanger geborenen Ibn Battutas oder seine „billigen Krimis“ helfen ihm schließlich, sich selbst in der Welt zu verorten.
Mit „Straße der Diebe“ beweist Énard erneut sein Können als meisterlicher Geschichtenerzähler und präziser Chronist der Geschichte. Sein Bericht einer unfreiwilligen Abenteuerreise beschreibt ein überzeugendes, wenn auch deprimierendes Bild der chaotischen Lage Europas und der arabischen Welt – vom islamistischen Unterlaufen der Revolutionen über das elende Ende Tausender illegaler EinwanderInnen auf dem Grund des Mittelmeeres bis hin zum sozialen Verfall Spaniens und seiner krassen, hinter den touristischen Fassaden verborgenen Armut.
„Ich bin kein Pessimist“, beteuert Énard, als er sich in Berlin auf sein Fahrrad schwingt, um die Stadt zu erkunden. „Aber halt Realist. Wir durchqueren eine schwierige Phase, und ich fürchte, turbulente Zeiten kommen auf uns zu.“
■ Mathias Énard: „Straße der Diebe“. Deutsch von Holger Fock und Sabine Müller. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2013, 352 Seiten, 19,90 Euro