■ Eine bestrickend logische Erklärung, auf die wir lange gewartet haben: Der Wollverlust
Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum nirgendwo mehr Strickwolle angeboten wird? Und warum man schon lange keine strickenden Frauen mehr gesehen hat?
Die Antwort ist einfach: Es war zu wütenden Protesten Zigtausender Handarbeiterinnen gekommen, die die Risiken ihres Tuns einfach satt hatten. Vor Fabriken für pastellfarbene Polyacrylwolle bot sich wochenlang das gleiche Bild: „Stoppt die Plastikwolle-Produktion!“ „Für eine Welt ohne rosa Polyacryl!“ „Und überhaupt eine ohne Pastellfarben!“ stand auf den Transparenten, die sich im Winterwind blähten und ihre Trägerinnen beinahe umwarfen, denn natürlich hatte sie niemand darauf hingewiesen, daß man Windlöcher in sie hineinzuschneiden habe. Eine ihrer Aktivistinnen ergriff das Megaphon: „Schwestern, sagen wir Stopp! Es muß Schluß sein mit dem widerlichen Knirschen, wenn man die Acrylwolle mit den Zähnen durchtrennen will, Schluß mit den Schmerzen in den Ellenbogen beim Stricken, die durch elektrostatische Aufladungen entstehen! Und Schluß mit dem sinnlosen Schwitzen in Plastikpullovern!“
Der eigens aus dem Skiurlaub angereiste smarte Juniorchef, der seinem verzweifelten Aufsichtsrat noch vor wenigen Tagen erklärt hatte, wegen solchem „Weiberquatsch“ würde er überhaupt nicht daran denken, seine Ferien abzubrechen, im Gegenteil, und sich nur aufgrund der negativ ausfallenden Fernsehberichte über sein Unternehmen herbeibemüht hatte, stand nun, äußerlich sein altes arrogantes Selbst, ein wenig nachdenklich vor den verzweifelten Frauen. „Ist Profit wirklich das ganze Leiden wert?“ fragte er sich insgeheim, während er seiner Security mit einer kurzen Handbewegung bedeutete, die Demonstrantinnen wegzuschaffen – egal wie. Doch die großen Männer in den werkseigenen blauen Uniformen rührten sich nicht. Was hatte das zu bedeuten? Schließlich löste sich der alte Pachulke aus den Reihen der Werkschutzleute, ein Mann, dessen Vater und Urgroßvater der Firma schon treu gedient hatten. „Chef“, flüsterte er, „von uns wird keiner was unternehmen. Schließlich sind es auch unsere Frauen und Mütter, die dort stehen!“ Der Juniorchef schluckte und musterte die Männer ungläubig. Die erwiderten seinen Blick, bis sie sich plötzlich bewegten. Sie gingen hinunter zu den Demonstrantinnen, der Juniorchef entspannte sich, aber – das konnte doch nicht sein! Sanft nahmen die ersten Werkschutzmänner den Frauen die schweren Transparente aus der Hand und reckten sie dem Juniorchef stolz entgegen, stimmten in die Sprechchöre „Ich will, ich will, ich will kein Polyacryl“ ein und ließen sich von den Protestiererinnen umarmen. Sofort waren auch die Fernsehteams zur Stelle, um die Bilder hinaus in die Welt zu schicken.
Der Juniorchef griff zum Mobiltelefon. Hastig tippte er die Nummer seiner Entwicklungsabteilung ein. „Erfindet sofort etwas, was man aus Polyacryl herstellen kann, egal was, bloß stricken darf man damit nicht können!“ blaffte er den leitenden Ingenieur an.
Etwa zur gleichen Zeit spielten sich vor einer Fabrik, die Strickwolle aus echter, naturbelassener Wolle herstellte, ähnliche Szenen ab. Auch hier hatten sich Frauen versammelt, die es satt hatten. Satt, kratzige Wolle verarbeiten zu müssen, satt, in naturbelassenen Farben wie Gallegrün, Ekelbraun oder Tapetenkleister-Beige herumzulaufen, und die nun endlich bereit waren, etwas zu unternehmen: „Schluß mit der Kratzerei!“ „Für ein Leben ohne Ekzeme!“ „Bunte Farben sind ein Menschenrecht!“ stand auf ihren Transparenten, in die sie, die Schwierigkeiten ihrer Schwestern vor der Acrylwollefabrik vor Augen, Löcher geschnitten hatten und die deshalb sanft im Wind wogten. Der Abgesandte des Strickwolleherstelleraufsichtsrates blickte ein wenig beunruhigt auf die Szene, zumal sich der firmeneigene Werkschutz, dem Beispiel der Genossen von der Polyacrylfabrik folgend, dem Protest angeschlossen hatte. Resigniert griff er zum Funktelefon und erklärte dem Chef der Entwicklungsabteilung: „Erfinde unstrickbare Wolle, sofort!“
Und deswegen gibt es keine strickenden Frauen mehr. Weil es keine Wolle gibt. Manchmal ist eben alles ganz einfach. Elke-Lore Roman
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen