■ Eine Klarstellung: Notwehr – nicht Gegengewalt!
1.
Mein Aufruf an die bedrohten Ausländer nach Solingen: „Wehrt Euch – laßt Euch nicht länger widerstandslos abfackeln von deutschen Verbrechern“, also die Aufforderung, auf weitere Mordanschläge rechter Gewalttäter besser vorbereitet zu sein als bis dahin – hat sowohl zu absichtsvollen Mißdeutungen daran interessierter politischer Gegner wie auch zu Irritationen auf seiten von Freunden und Verbündeten geführt.
Ich erkläre dazu: Keiner Zeile meines Aufrufes ist etwas anderes zu entnehmen als defensive Abwehr gegenüber offensiver Gewalt. Gefordert wird darin nicht Gegengewalt, sondern das Recht jedes Menschen auf Selbstverteidigung, wenn er angegriffen wird. Auch gibt es keine Spur von Sympathien für jene ausländischen Extremisten von links und rechts, denen der Tod von Menschen, und sei es der ihrer eigenen Landsleute, nur als Vorwand dient, um die internen Streitigkeiten ihrer wechselseitig verrückten Ideologien auszutragen. Mein Aufruf an die bedrohten Ausländer in Deutschland, sich zu wehren, war ebensowenig eine Aufforderung an sie, sich zu militarisieren, wie mein Brief an Kanzler Kohl vom November 1992, mit dem ich nach Mölln und angesichts der alarmierenden Schwäche des Staates gegenüber den rechten Gewalttätern ankündigte, daß nunmehr auch bedrohte Juden in Deutschland übereingekommen seien, ihren Schutz und den ihrer Familien in die eigenen Hände zu nehmen. Beides war die überfällige Reaktion auf das überfällig ungelöste Problem rechter Gewalttäter. Ich lasse mich nicht aus meiner Position defensiver Abwehr in die Rolle eines jüdischen Pistolero und Scharfmachers drängen. Weder mein Brief an Helmut Kohl noch mein Aufruf an die Ausländer sind das Delikt. Das Delikt ist die Zulassung von Zuständen, die die Frage solcher Abwehr überhaupt erst aufwarfen.
Ich habe eine einfache Frage: Was wäre eigentlich geschehen, wenn die Ausländer (die, da ja jeder von ihnen das nächste Opfer werden konnte) sich schon nach dem ersten Ermordeten aus ihren Reihen zur Selbstverteidigung entschlossen hätten? Wenn sie auf ihr Notwehrrecht gepocht hätten, nach den endlosen Erfahrungen, daß weder die Bevölkerung noch die Staatsorgane bereit oder willens waren, sie zu schützen? Grenzte es denn nicht an ein Wunder, daß die tausendfach Angegriffenen nicht zurückschlugen? Was, wenn sie nicht gehört hätten auf die Arroganz unbedrohter Klugscheißer, daß man sich im „Rechtsstaat“ eher abschlachten lassen müsse, als Überlegungen zum Selbstschutz anzustellen? Wären dann den Ausländern, wären dann nicht auch uns jene Toten und Verletzten erspart geblieben, die nun zu beklagen sind?
2.
Mir sind alle verdächtig, die sich durch den Aufruf zur Notwehr gegen rechte Gewalt beunruhigter fühlen als durch die rechten Gewalttäter selbst.
Ja, es stimmt, die hirnlosen Schlagetots und gemütsdürren Zündler an der Front des Ausländerhasses, sie entstammen meist dem Milieu sozialer Unterschichten, dem pädagogischen Bereich der Hauptschule und den familiären Horrorszenen einer verkümmerten Elternwelt – und ich bin nicht bereit, ihnen auch nur ein einziges Element ihrer soziologischen Tristesse als Bonus anzurechnen. Aber ich vergesse darüber keine Sekunde die viel gefährlicheren Biedermänner hinter ihnen, von Rechtsaußen bis tief hinein ins konservative Lager; ich vergesse auch keine Sekunde die honorigen, konservativen Politiker, die für die legale Existenz jener Organisationen, Vereine und Parteien verantwortlich sind, die seit Jahrzehnten als eindeutig Nazi-nah oder Nazi- identisch erkennbar sind.
Aus ihren Reihen kommen bezeichnenderweise die geschärften Reaktionen auf meinen Aufruf, von jenen Machtträgern also, die es bisher versäumt haben, dem Treiben der rechten Gewalttäter durch Maßnahmen der Exekutive und Legislative ein rasches und wirksames Ende zu setzen. Ich wiederhole auch dies: die Initialzündung für Kanzlerbrief und Aufruf war die unheimliche Hemmschwelle der konservativen Herrschaft, die rechten Gewalttäter und ihre Hintermänner nicht als Todfeinde der demokratischen Republik zu behandeln, sondern wie „ungezogene Verwandte“.
3.
Die mich fortwährend mit „Recht und Gesetz“ bedrohen, die mich darstellen als Feind von Verfassung und ziviler Ordnung, ihnen muß klargemacht werden, daß ich keineswegs ohne Rechtshintergrund bin bei meiner Forderung nach defensiver Abwehr. Ich berufe mich dabei auf den Staatsrechtler Josef Isensee, der in seinem Buch „Das Grundrecht auf Sicherheit – Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates“ folgende klassische Direktiven gibt:
„Nach geltendem Recht darf der Private sich und andere vor einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff verteidigen, falls staatliche Hilfe ausbleibt. Die Notwehr und die sonstigen Formen der erlaubten Selbsthilfe sind Ausnahmen vom staatlichen Gewaltmonopol ... die Rechtslage ändert sich jedoch wesentlich, wenn die Staatsorgane unter Mißbrauch des Opportunitätsprinzipes oder unter Mißachtung des Legalitätsprinzips planmäßig und nachhaltig untätig bleiben und dem Angegriffenen den Schutz vorenthalten. Ein Prinzip zeitgeistangepaßter Rechtspolitiker besteht darin, bei politisch genehmer Gewalttätigkeit das staatliche Gewaltmonopol zu ignorieren, sich jedoch darauf zu besinnen und darauf zu pochen, wenn Private auf der Grundlage des Notwehr- und Nothilferechts Bürgerwehren bilden oder sonstige Vorkehrungen des Selbstschutzes organisieren.“
Dies genau ist der Aggregatzustand im Deutschland von 1993, exakter ist die gegensätzliche Haltung der Politikerklasse an der Regierung gegenüber dem Links- und Rechtsextremismus nicht zu definieren.
4.
Ich habe niemals behauptet, daß die Erwartung auf Gewaltmaßnahmen und die entsprechende Vorbereitung darauf die einzigen Mittel seien, um mit dem deutschen Rassismus fertig zu werden. Selbstverständlich gehören dazu zahlreiche flankierende Maßnahmen der Gesellschaft und des Staates, geht es nicht ohne große Anstrengungen der deutschen Solidargemeinschaft für Ausländer und für die eigene Jugend. Es geht, kurz gesagt, um mehr Menschen und mehr Geld, um das Übel dort zu packen, wo seine Wurzeln sind: in den Entstehungszentren der Gewalt aus sozialen Ursachen.
Bedarf es denn irgendeiner besonderen Erwähnung, daß das Ziel all unserer Anstrengungen nur darin bestehen kann, den fürchterlichen Status quo aufzuheben, der zu Kanzlerbrief und Ausländeraufruf geführt hat? Aber mit der Abwehr auf rassistische Angriffe warten, bis diese Riesendefizite aufgehoben sein werden?
Niemandes Freude wäre größer als die meine, wenn sich solche Überlegungen gesicherter Überwindung erfreuen und den mörderischen Praktiken des Fremdenhasses, dem immer auch Antisemitismus innewohnt, der gesellschaftliche und staatliche Garaus gemacht werden würden. Noch, und auf lange wohl, ist es nicht soweit. Ralph Giordano
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