: Eine Berliner Existenz
Ihr berühmtester Roman machte im Berlin der Weimarer Republik Skandal – und wollte doch die Skandalmacherei bloßstellen. Gabriele Tergits „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ ist jetzt neu erschienen
VON NADINE LANGE
Fäuste donnern an die Tür. Es klingelt unentwegt. Ein SA-Trupp versucht in den frühen Morgenstunden des 4. März 1933, in die Sechszimmerwohnung am Siegmundshof 22 in Berlin-Tiergarten einzudringen. „Nicht aufmachen!“, ruft der Hausherr, Architekt Heinz Reifenberg, dem Dienstmädchen zu. Er geht selbst zur Tür, die erst vor kurzem mit Eisenbeschlägen verstärkt wurde. Als er sie einen Spaltbreit öffnet, schnellt ein Fuß in die Lücke. Doch die Sicherheitskette hält. „Haftbefehl für Ihre Frau!“, schallt es herein. „Von wem?“ – „Direkt vom Reichsminister Göring.“ Mit aller Kraft stemmt sich Reifenberg gegen die Tür und knallt sie schließlich zu. Wenige Stunden später hat seine Frau Gabriele Tergit ihre Koffer gepackt und lässt sich von ihm in die Tschechoslowakei bringen. Es ist ihr 39. Geburtstag.
Gabriele Tergit hat die Nationalsozialisten kommen sehen. Die jüdische Journalistin konnte sie ganz genau beobachten im Landgericht Moabit, von wo sie seit 1924 vor allem für das Berliner Tageblatt und die Weltbühne berichtete. Es begann verhältnismäßig unspektakulär mit jungen Nazibengeln, die im Gerichtssaal herumflegelten, oder einem Veteranen, der vor einem jüdischen Geschäft randaliert hatte. Doch im Laufe der Zeit wurden die Verbrechen schlimmer, der Ton wurde härter. So standen 1927 Angehörige der so genannten Schwarzen Reichswehr vor Gericht, die abtrünnige Kameraden ermordet hatten. „Unsichtbar steht ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch“, schrieb Tergit. Tatsächlich wurden diese als „Fememörder“ bekannt gewordenen Verbrecher später als die ersten Soldaten des Dritten Reichs verehrt. Eine der „scheußlichsten Taten, die je in Moabit zur Verhandlung standen“, war für Tergit der grausame Mord an einem jüdischen Zeitungsverkäufer. Der Hauptverdächtige bekam nur fünf Jahre Gefängnis. „So zart kann man das Faustrecht, das sich in Deutschland ausbreitet, nicht bekämpfen“, schrieb sie im Berliner Tageblatt vom 17. Juli 1930.
Überhaupt war ihr die Justiz oft viel zu verständnisvoll gegenüber nationalsozialistischen Angeklagten. Ganz besonders ärgerte sie sich über einen Beleidigungsprozess im Januar 1932: Die zahlreich erschienenen Journalisten mussten vor dem Saal warten und waren so gezwungen, ein Spalier für den Angeklagten zu bilden. Der hieß Adolf Hitler. Empört warf Tergit den preußischen Behörden vor, durch diese „Regie“ dabei mitzuhelfen, „Hitler als künftigen Monarchen zu zeigen“. Ihren Artikel überschrieb sie mit „Wilhelm der Dritte erscheint in Moabit“.
Politik gehörte eigentlich gar nicht zum Gebiet von Gabriele Tergit. Ihre Form waren feuilletonistische Gerichtsreportagen. Dieses Genre hatte Paul Schlesinger (Kürzel: Sling) von der Vossischen Zeitung zu Beginn der Zwanzigerjahre geprägt. Als Erster berichtete er nicht im Stil von Polizeiprotokollen über die Prozesse, sondern schilderte sie wie Miniaturdramen. Gabriele Tergit fand ihre traurigen HeldInnen meist bei Verhandlungen über kleinere Verbrechen wie Diebstahl, Beleidigung oder Betrug – „Gerichtsspreu“ nannte sie das einmal. In den unterhaltsamen Stücken ging es etwa um eine junge Frau, die einer Arztgattin auf trickreiche Weise diverse Wäscheteile entwendet hatte, oder zwei Bayern, die gegen preußisches Bockbier klagten. Tergit perfektionierte diese Gerichtskurzgeschichten in über vierhundert Artikeln, die sich heute wie eine kuriose Sozialgeschichte der kleinen Leute zwischen Grunewald und Hasenheide lesen.
Aber auch in Berlins besseren Kreisen war die Journalistin mit der schwarzen Hornbrille unterwegs. Sie besuchte Bars und Bälle, ging auf Modenschauen oder nahm an einem Trockenskikurs teil, wobei sie stets besonders die Damen im Blick hatte. Tergits trefflichste und amüsanteste Gesellschaftsbeobachtungen finden sich in der zwölfteiligen Serie „Berliner Existenzen“, die sie für das Berliner Tageblatt schrieb. Stets ein wenig spöttisch und sehr präzise charakterisierte sie darin typische Oberschichtgewächse wie die „Einspännerin“: „Sie hat einen burschikosen Medizinerton am Leibe und nennt alle Welt ‚mein Herzchen‘. Sie spricht mit Kokotten von der Geschäftslage, rät Anfängerinnen, wenn schon, dann wenigstens zum Arzt zu gehen, macht höchst pessimistische Statistiken über die Männer, gibt Anweisungen für Frauen und solche, die es werden wollen, kurzum, ist ein famoser Kerl.“
Einiges, was Tergit über diese Ärztin schreibt, erinnert an sie selbst. Wie sie gehörte Tergit zum damals neuen Typ der selbstbewussten, studierten Frau, die sich ihren Platz in einem von Männern dominierten Beruf erkämpft hatte. Anders als die Einspännerin hatte Tergit ihrem Innenleben, der Liebe, allerdings nicht „abgesagt“.
Die „Berliner Existenzen“ wurden vom Prager Tageblatt nachgedruckt, und auch Gabriele Tergit selbst verwendete sie noch ein weiteres Mal: Neben einigen ihrer Feuilletons, deren Stil an Alfred Polgar erinnert, integrierte sie diverse „Existenzen“ teils wörtlich in ihren ersten und bekanntesten Roman, „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“. Dieser ist jetzt in seiner ursprünglichen Fassung aus dem Jahr 1931 wieder aufgelegt worden (herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jens Brüning, Berlin 2004, Verlag Das Neue Berlin, 269 Seiten, 14,90 Euro). Dabei wurden einige von Tergit in den Siebzigerjahren vorgenommene Streichungen rückgängig gemacht und einige Lektoratsfehler behoben.
Den Anstoß für den Roman bekam Gabriele Tergit, als sie nach einer Operation mit ihren Eltern Urlaub in Vorarlberg machte. Dort sagte eine Dame zu ihr: „Schönes Hotel, nicht wahr?“ Sie antwortete, dass es ihr ebenfalls gefalle, sie jedoch lieber in die Schweiz gefahren wäre. Daraufhin die Dame: „Das können Sie nicht, die Schweiz ist völlig verjudet.“ Noch am selben Abend begann Tergit eine „Satire auf den ‚Betrieb‘ “ zu schreiben, die sie innerhalb von nur vier Wochen mit dem Füllfederhalter fertig stellte. Mit dem „Betrieb“ meinte sie die Welt der Reklame und Sensationsmacherei. Werbung war für sie „eine Leben zerstörende Angelegenheit. Hat sich ja auch erwiesen, als dann Herr Goebbels das Ministerium für Reklame aufgemacht hat.“
Im Roman gerät der nicht übermäßig talentierte Volkssänger Georg Käsebier aus der Hasenheide unter die Räder des Betriebs: Nach einer positiven Kritik in der Berliner Rundschau wird er auch von einem bekannten Schriftsteller gelobt. Bald darauf berichten alle Medien über ihn – und Käsebier-Produkte aller Art werden angeboten: Käsebier-Zigaretten, -Puppen, -Glühbirnen und -Schuhe. Schließlich soll am Kurfürstendamm sogar ein Käsebier-Gebäudekomplex inklusive Theater für den Sänger entstehen.
Doch Profitsucht, Korruption und Mauscheleien machen das Projekt zunichte. Zudem ist Käsebier inzwischen out und Mickey Mouse in. Nur eine Karriere im gesamten Roman verläuft positiv: die des Ehrgeizlings Willy Frächter, der zunächst hilft, den Hype um den Sänger zu entfachen, und später zum skrupellosen Verlagssanierer aufsteigt. Auch die Berliner Rundschau mit der sympathischen Lokalredaktion rund um den Redakteur Miermann fällt ihm schließlich zum Opfer.
„Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ ist ein schnelles, personalreiches Zeit- und Gesellschaftspanorama, das Tergits Sicht auf die Stadt in verdichteter Form spiegelt. Es wirkte seinerzeit so aktuell und realitätsnah, dass die Zeitgenossen sofort versuchten, die Vorbilder der Figuren zu identifizieren. Angestachelt hatte diese Suche vor allem Walter Kiaulehn, ein Kollege vom Berliner Tageblatt. Er wollte die Bekanntheit des Romans steigern und schrieb deshalb für die B.Z. am Mittag einen Artikel mit dem Titel „Schlüssel zu einem Schlüsselroman“. Darin setzte er Käsebier mit dem Sänger Erich Carow gleich, der nach einem Bericht von Heinrich Mann zu einer gewissen Berühmtheit gekommen war.
Kiaulehns Rechnung ging auf: Sein Text bescherte dem Roman weitere Publicity, die natürlich überhaupt nicht in Tergits Sinne war. Plötzlich war ihr Buch selbst zum Objekt des Betriebs geworden, den es kritisierte. Der Roman gegen die Sensationsmacherei wurde selbst zur Sensation. Dabei ist ganz offensichtlich, dass Käsebier lediglich ein willkürlicher Aufhänger der Geschichte ist. Gabriele Tergit hat ihn aus zwei ihrer eigenen Artikel über Varietékünstler zusammengestellt.
Mehr als siebzig Jahre später fasziniert die Zeitlosigkeit von Tergits Buch, denn es karikiert Marktmechanismen und -phänomene, die inzwischen in perfektionierter Form die Unterhaltungsindustrie dominieren. Es führt ein direkter Weg von Käsebier zu Kübelböck. Noch beeindruckender ist jedoch das Historische an „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“: die Schilderungen der Abendgesellschaften und Redaktionsstuben, der Einspännerinnen und Luxusgroßmamas. Das war Gabriele Tergits über alles geliebtes Berlin. Sie hat es in einem wundervollen Porträt festgehalten, kurz bevor es für immer verschwand.
NADINE LANGE, 31, ist Journalistin und lebt in Berlin. Ihre Magisterarbeit schrieb sie über Tergits Werk während der Weimarer Republik