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Ein eigenwilliges Verständnis von Solidarität

betr.: „Ich kann es nicht mehr hören“, Interview mit Gesundheitsministerin Andrea Fischer, taz vom 8. 7. 99

[...] Es gibt entgegen Fischers Aussage ein Globalbudget und sogenannte individuelle Richtgrößen für den einzelnen Arzt bei der Medikamentenverordnung. Der Arzt haftet so für eine mögliche Globalüberschreitung durch alle Ärzte und für seine eigene Überschreitung der Richtgröße. Eine Kontrolle der Verordnungsmenge ist ihm aber nicht möglich, da Frau Fischer einerseits die Kassen aus der Mitteilungspflicht der Verordnungsmenge gegenüber dem Arzt befreit hat und andererseits die Ärzte sich nicht gegenseitig kontrollieren können. Über die Versicherungskarte besteht die uneingeschränkte Möglichkeit der Inanspruchnahme aller Ärzte durch die Versicherten, und somit sind auch Doppelverordnungen möglich. Daß das festgesetzte Globalbudget nicht für alle Leistungen der modernen Medizin ausreichen kann, ergibt sich aus den Fortschritten der Medizin. [...]

Frau Fischer wischt eine von der Durchführung sehr einfache Gesundheitsabgabe auf zum Beispiel Zigaretten und Alkohol mit einer sehr fadenscheinigen Begründung vom Tisch. Eine Abgabe von zum Beispiel zehn Pfennig pro Packung Zigaretten wäre ein Beitrag für mögliche Behandlungskosten bei Erkrankungen von Rauchern und Mitrauchern. Eine Zusatzversicherung für Risikogruppen ist zwar in der Einführung komplizierter, aber durchaus möglich, eine Unfallversicherung für Personenschäden in der KFZ-Haftpflicht gibt es auch.

Die neue Regierung ist mit dem Versprechen der Schaffung von Arbeitsplätzen angetreten. Die grüne Gesundheitspolitik wird Arbeits- und Ausbildungsplätze im ambulanten und stationären Gesundheitsbereich vernichten. Klaus-Dietrich Kunstmann, Arzt für Allgemeinmedizin und grüner Stadtrat, Bruchsal

[...] Es stimmt, daß eine Rationierung nicht kommen wird – sie ist schon seit Jahren da, nur wurde das Ausmaß immer größer. Dies wird nun noch mehr zunehmen. Die Patienten werden immer älter und die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten immer besser, dies macht moderne Medizin immer teurer, die Folgen wie zum Beispiel frühere Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit oder höheres Lebensalter und bessere Lebensqualität führen aber nicht zu Mehreinnahmen der Krankenkassen.

Unehrlich (oder inkompetent?) ist die Ministerin auch bei der Qualitätsdiskussion und den Einsparpotentialen. In fast alle Kliniken in Deutschland sind 24-Stunden-Dienste die Regel, was zu einer Arbeitszeit von am Stück 26 bis 32 (und mehr) Stunden führt. [...] Und daß Aus- und Fortbildung grundsätzlich in der Freizeit stattfinden und zudem die offizielle Arbeitszeit nicht für eine verantwortungsbewußte Patientenbetreuung ausreicht, so daß mindestens zwei offiziell nicht existente Überstunden täglich als selbstverständlich angesehen werden, sei nur am Rande erwähnt.

Am Wochenende und nachts bin ich für alle Aufnahmen (bis 20), 140 „normale“ Patienten und die Intensivstation zuständig. Es ist eine Beleidigung gegenüber Patienten und Ärzten, in einem Land, wo diese häufiger die Regel als die Ausnahme darstellt, von „Überversorgung“ zu sprechen. Selbst dann also, wenn die von der Ministerin unterstellten Einsparpotentiale existieren würden, würde das Geld nicht dazu reichen, für Krankenhausärzte normale statt menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen zu schaffen. [...]

Über die Haltung der Ministerin zum Rauchen kann ich nur staunen. Sicher wäre es wenig sinnvoll, eine individuelle Teilung der Krankenversicherung in Raucher und Nichtraucher vorzunehmen. Doch eine Antwort darauf, warum nicht die Tabaksteuer in vollem Umfang an die Krankenkassen weitergeleitet wird, bleiben Fischer und der Co-Minister und Kettenraucher Dreßler schuldig. Die erheblichen Behandlungskosten für Folgeschäden tragen dann alle Versicherten. Mit Rationierung bei Kassenpatienten und Ausbeutung von Ärzten die Tabakindustrie entlasten – ein eigenwilliges Verständnis von Solidarität. Hans-Peter Doepner, Arzt am Krankenhaus, Innere Medizin, Westerham

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die auf dieser Seite erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.

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