Ein Sammelband widmet sich dem Thema Selbsttötung: Geschichten vom Suizid
Berlin auf Blättern
von Jörg Sundermeier
Wissenschaftler tun es. Angehörige tun es. Diejenigen, die ihn versucht haben, tun es. Doch immer ist es angespannt, leicht verkrampft, zu gefühllos oder zu emotional. Über den Suizid zu schreiben ist nicht leicht. Denn „jeder Versuch und jeder vollendete Suizid hat seine eigene Geschichte. Jede Person, die damit konfrontiert ist, erzählt sie anders und aus einem ganz eigenen Blickwinkel“. Das schreiben Falk Blask, Wolfgang Knapp, Maren Michligk und Judith Willkomm in ihrem Vorwort zu „Über Suizid. Ein Berlin-Buch“.
Dieses Buch sollte zunächst die Ausstellung „sterben wollen | Denkraum Suizid“, die 2009 auf den Freiflächen des Berliner Medizinhistorischen Museums stattfand, dokumentieren, was es auch tut – aber nur auf zehn Prozent der 330 Seiten. Zuvor führt es mithilfe vieler kommentierter Briefe und Dokumente in das Thema ein, zunächst mit dem sehr genauen und sehr feinfühligen Vorwort aller Herausgeberinnen und Herausgeber.
Dort klären sie etwa darüber auf, dass die Herbst- und Wintertage statistisch gesehen nicht jene sind, an denen sich die meisten Menschen umbringen, vielmehr legen zwischen März und Oktober mehr Leute Hand an sich, wie man früher sagte. Auch die Bezeichnungen für den Akt der Selbsttötung sind umstritten, der gebräuchliche Begriff des Selbstmords, den mutmaßlich erstmals Martin Luther verwendete: „sein selbs morder“ führt mit sich eine moralische Verurteilung.
Der Begriff des Freitods wiederum behauptet eine Freiwilligkeit, die viele so in ihrem Abgang nicht sehen können. So schreibt eine Margarete S. im Jahr 1931 in ihrem Abschiedsbrief an ihre Kinder: „Ich gehe so schwer aus dem Leben, das ich so liebe. Alles in mir liegt brach, all mein Können, meine Liebe ungenützt. Und ich habe doch ein so warmes Herz für alles. Ich habe Euch so heiß, sehr sehr lieb. Mutti“.
Warum aber „Berlin-Buch“? Es stelle Verknüpfungen zwischen dem sensiblen, persönlichen, oft verschwiegenen Thema und konkreten Orten, Personen und Institutionen dieser Stadt her, schreiben die Herausgeberinnen. Das stimmt nur bedingt, doch es musste ein Rahmen geschaffen werden, um die Recherche nicht ausufern zu lassen.
Zu lesen sind Abschiedsbriefe von bekannten Persönlichkeiten wie Joachim Klepper, Heinrich von Kleist, auch Magda Goebbels ist darunter, doch auch viele Unbekannte kommen zu Wort – das Stadtarchiv wurde gründlich durchsucht. Hinterbliebene äußern sich ebenso wie jene, die einen Suizidversuch überlebt haben, es werden Fallgeschichten erzählt und Institutionen aufgesucht, die bei der Selbsttötung helfen oder dabei helfen, sie abzuwenden.
Zudem werden Selbsttötungen erwähnt, die politisch motiviert waren, sei es, weil ein abgelehnter Asylbewerber nicht abgeschoben werden wollte, sei es, dass ein jüdisches Ehepaar nicht den Nazis überlassen wollte, wer über ihren Tod bestimmt – der Suizid als letzter Akt der Selbstermächtigung.
Das Buch ist nicht immer leicht zu lesen, da es unmittelbar berührt, obschon sich die Herausgeberinnen darum bemüht haben, keinen Kitsch und keine Verklärung aufkommen zu lassen. Gerade das aber ermöglicht es, den Suizid in nahezu allen Facetten kennen zu lernen. Es ist also weniger ein Buch über Berlin als vielmehr ein Buch über das Leben – von seinem Ende her gedacht.
Falk Blask, Wolfgang Knapp, Maren Michligk, Judith Willkomm (Hg.): „Über Suizid. Ein Berlin-Buch“. Panama Verlag, Berlin 2016, 330 Seiten, 19,90 Euro
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