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Archiv-Artikel

Ein Parlament muss sterben dürfen Kommentar von Patrik Schwarz

Als Selbstmord aus Angst vor dem Tod beschrieben Spötter die dramatische Entscheidung von Schröder und Müntefering vor neun Tagen. Eine Woche nach ihrem plötzlichen Plädoyer für Neuwahlen im Herbst sieht es so aus, als verspielten Kanzler und SPD-Chef gerade den letzten Vorteil, den das Manöver für sie bereithielt: einen Abgang in Würde.

Ein klassischer politischer Selbstmord sähe anders aus, doch den scheuen die Akteure mit Blick auf ihr Bild in der Geschichte. Wenn der Bundeskanzler heute zurücktritt, könnten (so gut wie) morgen Neuwahlen stattfinden. Die Alternative, die sich derzeit vor den Augen einer entgeisterten Wählerschaft abspielt, ist die verzweifelte Suche nach gedungenen Mördern: Wer bloß spricht dem Kanzler das Misstrauen aus? Da sich dafür weder SPD-Linke noch Grüne hergeben wollen, fachen Schröder, Müntefering und SPD-Vize Kurt Beck Koalitionskonflikte an, die keine sind. Weil der Kanzler die unechte Vertrauensfrage erzwingen will, muss das Volk unechte Koalitionskräche ertragen – dabei waren schon die echten unerträglich. So geht das nicht, so wird das nichts.

Gesucht wird ein Weg in den Tod ohne Selbst- und Brudermord. Das Gute: Es gibt ihn. Der Vorschlag, per Verfassungsänderung dem Bundestag das Recht zur Selbstauflösung einzuräumen, ist richtig. Der Bundestag braucht ein Recht auf humanes Sterben.

Trotzdem sind die Ängste der kleinen Parteien verständlich, die im Zweifel einer Parlamentsauflösung durch die Großfraktionen nichts mehr entgegensetzen könnten. Deshalb muss die Hürde höher liegen als eine Zweidrittelmehrheit. Einen gangbaren Weg bietet die Idee, dass alle Fraktionen mit der Mehrheit ihrer Abgeordneten die Auflösung fordern müssen.

Schröders angebliche Ablehnung einer Grundgesetzänderung kann übrigens auch ein paradoxes Nein sein, hinter dem die SPD aus taktischen Erwägungen ihren Wunsch nach einem Ja verbirgt: Indem sie sich zunächst ablehnend gibt, heizt sie die Debatte an, an deren Ende sie sich, nur scheinbar widerstrebend, zum Ja bekehren lassen kann. Auf diese Weise käme die Koalition vielleicht doch noch in den Himmel – nach ihrem Abgang, versteht sich.