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Archiv-Artikel

Ein Lob der Disziplinlosigkeit

RISKANTES DENKEN In einer Welt voller Risiken und Krisen müssen Studierende stärker interdisziplinär lernen – am besten undisziplinär

Stephan A. Jansen

■ Jansen, Jahrgang 1971, ist Gründungspräsident der 2003 gegründeten privaten Zeppelin University in Friedrichshafen. Der Wirtschaftswissenschaftler ist dort Lehrstuhlinhaber für Strategische Organisation & Finanzierung.

VON STEPHAN A. JANSEN

Im Zweifel für den Zweifel, hätte René Descartes gesagt und so die Kernfunktion der Universität beschrieben. Im Zweifel bei der Bologna-Reform für Humboldt, haben viele Studierende gesagt. Im Zweifel für das Verzweifeln, sagt der universitäre Diskurs über die Realität der Idee der Universität. Seit nunmehr 800 Jahren wird die Universität in der Universität und manchmal auch in der Gesellschaft kritisiert. Ob im 16. Jahrhundert oder im 19. Jahrhundert – immer war die Kritik der Gegenwart eine Frage nach der Zukunft der Universität.

Das Ende der 1960er-Jahre ist in das kollektive deutsche Gedächtnis eingegangen – in das universitäre wohl am stärksten. Seitdem wird von der „blockierten Universität“, der „unzeitgemäßen Universität“, der „ungeliebten Universität“ oder der „Geistlosigkeit der Universität mit fehlenden Utopien“ gesprochen. Der Wissenschaftsphilosoph Jürgen Mittelstraß pointierte schon im Jahr 1992: „Die Wissenschaft hat die Zukunft im Blut. Die Universität die Vergangenheit?“

Aber trifft diese Selbstkasteiung der Universitäten den Kern ihrer Probleme – jenseits all ihrer zugetragenen Überanspruchungen und Überdehnungen in einer positiv vermaßten Wissensgesellschaft?

Risiken und Krisen

Fangen wir einmal nicht bei der Universität an, sondern bei der heutigen Generation der Menschen, die in ihr wirken: Diese Studierenden und jungen Forscher sind sozialisiert mit der „Normalität der Katastrophe“, wie es der amerikanische Soziologe und Katastrophenforscher Charles Perrow beschrieb. Die erste historisch bedeutsame Finanzmarktkrise des neuen Jahrhunderts, der sich individualisierende wie globalisierende Terrorismus, die unkontrollierbaren Umwelt- und Technikrisiken sowie die weltweiten technologisch, nationalstaatlich, politisch wie zeitlich unlösbar scheinenden Herausforderungen in Fragen der Energie, der Demographie, des Terrors, der Bildung, des Wassers oder des Hungers zeigen diese Normalität der Katastrophe. Diese Katastrophen zeigen die Durchgängigkeit der Brüchigkeit unserer Gesellschaft, die Kontinuität der diskontinuierlichen Evolution und damit die Notwendigkeit des mutigen Umgangs in der Demut vor Desastern.

Die konkrete Frage, die mich auch persönlich seit Jahren umtreibt: Wie ist in Zeiten der zyklischen Normalität von Krisen, Katastrophen, Desastern eine Universität angemessen auszurichten? Was brauchen wir für eine Bildung für Studierende und was für Forschung für die Gesellschaft, die verantwortlich, also nach- und vordenklich mit der Erkennung, Vermeidung und dem Management im Umgang der Konsequenzen von Krisen und Diskontinuitäten umgeht? Wie kann man in Zeiten der Ökonomisierung des Studiums, der Forschung und der Organisation der Universität die spezifische Form des „riskanten Denkens“ wieder einüben, wofür die Universität gegründet wurde? Zwei Geschichten:

(1) Eine öffentliche Geschichte über das Geheime: Der amerikanische Geheimdienst hat im Nachgang des 11. September 2001 und der Erkenntnis, dass der Vorgang der Terroristen im Vorfeld erkennbar war, über die Form der kognitiven und wissenschaftlichen Praxis seiner Arbeit reflektiert. Das Ergebnis: Es bedarf mehr Multidisziplinarität und Ungerichtetheit in der Suche, damit man Überraschendes wie Selbstverständliches noch finden kann.

Gibt es eine Idee, wie man von Ausbildung auf Bildung, von Auswendig- auf Inwendiglernen, von Linearität des Wissens auf die vernetzte Entdeckungskompetenz im Umgang mit Nichtwissen umstellt? Wie wäre die schon bei Kant kritisierte Ausdifferenzierung der Selbst-Diszipliniertheit der Wissenschaft zu Gunsten einer undisziplinierten Bildung von Zwischenlösungen zu überlisten?

Wie ist in der Normalität von Krisen und Katastrophen eine Universität angemessen auszurichten?

(2) Eine gesicherte Geschichte über das Riskante: Im Kontext der Finanzmarktkrise ist die gegenwärtige Forschung über die zukünftige Ausbildung der Entscheider diskutiert worden – spätestens seit Henry Mintzbergs kritischen Analysen zur risikosteigernden Ausbildung zum Master of Business Administration (MBA) und zu den verengten Business Schools. Wir haben eine Bildungs- und Theoriekrise in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften, die mit den wissenschaftssystemisch erfolgreichen wie gesellschaftlich folgenlosen mikroökonomisierten Mathematisierungen und Menschenbildannahmen einherzugehen scheinen, über die Kommunikations- und Kulturwissenschaftler allenfalls schmunzeln. Zum anderen zeigte sich aber auch, dass die Finanzmarktkrise auch eine Managementkrise ist und zu einer ungekannten Elitenkritik führte.

Der französische Architekt, Stadtplaner und Philosoph Paul Virilio hat 2007 ein Büchlein veröffentlicht, das wir für das Weiterdenken ein wenig weiterentwickeln wollen: „L’université du désastre“. Die Universität des Desasters ist Virilios Antwort auf das „Zeitalter der Splittertheorien“. Aufbauend auf seine früheren Ausführungen zur Unfalltheorie nimmt er Bezug auf die Mega-Katastrophen: die Atombomben, Klimabomben, Demografiebomben und Finanzbomben. Seine These: Es kommt zu einer Konvergenz dieser Risiken. Wissenschaft und Ausbildung an Universitäten jedoch werden diesen Risiken nicht gerecht. Paul Virilio empfiehlt daher, eine „Universität des vollständigen Desasters“ zu gründen. Die derzeitigen Universitäten, auch die besten der Welt, seien dafür nicht hinreichend – wegen ihrer personellen wie disziplinären Organisation.

Hospiz der Wissenschaften

Die Universität müsse, wenn sie ihre Universalität tatsächlich erhalten will, sich umwandeln in „eine Art allgemeines Krankenhaus der Wissenschaften und ihrer Methoden“. Dieses Hospiz oder Invalidenheim der Wissenschaft muss sich dem Misserfolg des Erfolgs der vereinnehmenden und allerklärenden big sciences annehmen und als Universität darin die Neugründung suchen. Aber wie kann diese Idee konkret aussehen und was macht der Student an einer solchen Universität?

Dies sind die Fragen, die uns als Wissenschaftlerinnen, Universitätsmitarbeiterinnen und Studierende umtreiben müssen. Denn eine Universität des Desasters muss eine inter-, wenn nicht gar undisziplinierte Universität sein, die sich nicht um die big sciences allein kümmern kann, sondern um die big challenges, also die Desaster-Kandidaten. Es muss also eine „Universität des Zwischens“ sein, eine Universität zur Bildung der Zwischen-Lösungen, die genau so lange halten, bis die nächste Zwischen-Lösung sich empfiehlt.

Es muss uns in Zeiten der „Normalität der Katastrophen“ darum gehen, dass die Studierenden andere Disziplinen beherrschen müssen als die üblichen, die sie in den selbstdisziplinierten Fachbereichen und Fakultäten lernen. Sie sollten sich komplexe Problemsensibilisierung statt übereilte und triviale Lösungsfetische erarbeiten. Sie müssten theoretisch fundierte Frühwarnsysteme statt ritualisierte Krisenbewältigungsinstrumente entwickeln. Sie müssen sich um Kritik und Dissens bemühen, statt sich antizipativ karrieristischer Gleichförmigkeit hinzugeben.

Auch die Gründung der Zeppelin Universität in Friedrichshafen als eine beziehungsfähige Universität zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik ist so ein Versuch der Einheit der Differenz von Lehre, Forschung und wissenschaftlichen Dienstleistungen. Dieser Versuch ist nicht am Ende, aber wir bekommen Exzellenz im Experiment und interessante Erfahrungen mit Irritationen. Und diese Haltung beginnt am Anfang: Studierende an der Zeppelin Universität werden um Lösungen von unlösbaren Problemen in Gefängnissen, Psychiatrien, Bahnhofsmissionen, Rathäusern oder Altenheimen gebeten – im Auswahlverfahren.

taz-Labor Bildung

 Der Kongress: An ihrem 31. Geburtstag blickt die taz nach vorn. Welche Unis wollen wir? Welche können wir uns leisten? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des taz-Labors am 24. April in Berlin. Die taz diskutiert mit Gästen wie Annette Schavan (Bildungsministerin), Julian Nida-Rümelin (Philosoph) und natürlich mit Ihnen, den Lesern. Mehr unter www.tazlab.de

 Die Serie: Wo es an den Unis kracht, wer profitiert, wer verliert, lesen Sie jede Woche in der taz, fünfmal in Folge. Nächste Woche Teil V: „Ich will meinen Studenten abtrainieren, sich als Info-Lieferanten zu fühlen“, sagt Michael Wesch. Wesch, zum besten US-Hochschullehrer gekürt, sagt im Interview, wie das Seminar der Zukunft aussehen kann.

„Drop your tools!“

Universität würde dann bedeuten, generalistisch an Fragen der spezifischen Krisenprävention und des Krisenmanagements selbst zu arbeiten. Der Organisationspsychologe Karl E. Weick hat in seinen Analysen zu gelernten Routinen im Umgangs mit Krisen eine feuererprobte Empfehlung: „Drop your tools!“ Die Feuerwehrmänner, die ihr Werkzeug behielten, verbrannten selbst – weil sie zu unbeweglich waren.

„Drop your tools!“, mag man da auch den Brandschützern der Universitäten selbst zurufen, die in Zeiten der Benjamin’schen digitalen Reproduzierbarkeit von Wissen noch immer nicht von Vorlesungen auf das Vorherlesen, von PowerPoint auf zündende Debatten unter Anwesenden und von Über-Prüfungen auf Experimentieren von Erkenntnis und Urteilsfähigkeit umstellen. Seminare sind eben erst dann unbeschreiblich gut, wenn sie sich der vorherigen Niederschrift verweigern.

Erfüllen wir Universitäten den Wunsch Paul Virilios – gerade in Krisenzeiten –, „die Zukunft davon abzubringen, sich zu ereignen.“ Erfüllen wir uns den Wunsch, die Zukunft durch eine nachdenkliche, geistesgegenwärtige, vorbildliche, komplexitätssteigernde, interdisziplinäre wie begeisternde Forschungshaltung in den Universitäten zu bilden. Gerade weil es so wundervoll undiszipliniert und riskant ist.