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Ein Lehrer erschüttert Frankreichs SchuleDie Bewegung der "Ungehorsamen"

Tausende Lehrer boykottieren die Reformen des Schulsystems. Eine nie dagewesene Bewegung erschüttert Frankreichs staatliche Schulbehörde - angezettelt hat sie ein einziger Lehrer.

Am 4. April standen 2.747 Grundschullehrer im offenen Widerstand. Bild: screenshot resistancepedagogique.blog4ever.com

"Ich schreibe Ihnen diesen Brief, denn heute kann ich aus Gewissensgründen nicht mehr schweigen! Die staatliche Schulbehörde ist nicht die Armee! Es gibt nicht auf der einen Seite die, die entscheiden, und auf der anderen, jene, die die Entscheidungen ausführen!" So beginnt der Brief, den der Grundschullehrer Alain Refalo im November 2008 an die Schulbehörde seines Bezirks Haute-Garonne in Südfrankreich geschickt hat.

Einen Tag später veröffentlicht der 44-jährige Lehrer diesen Brief in seinem Blog namens "Pädagogischer Widerstand für die Zukunft der Schule". Und hat damit eine ganze Protestbewegung unter französischen Grundschullehrern ins Rollen gebracht.

Innerhalb weniger Wochen ist Alain Refalo bei den französischen Lehrern zum Helden des "zivilen Ungehorsams" geworden - unterstützt von den Eltern seiner Schüler und gestärkt durch zahlreiche Kommentare auf seinem Blog.

Refalo hat der Schulbehörde die Stirn geboten, indem er sich weigerte, ihre Anweisungen umzusetzen. In Frankreich ein Novum, eine Revolution im Kleinen.

Der Anlass für Refalos Aufbegehren war eine Reihe von Novellen des Schulgesetzes. Angefangen hatte es damit, dass die Zahl der wöchentlichen Schulstunden von 26 auf 24 verringert wurde. In den zwei gewonnenen Stunden sollen die Lehrer nun lernschwachen Kindern Nachhilfe geben.

Eigentlich eine gute Idee. Doch sie bedeutet auch: Weniger Unterricht für die anderen Schüler, den Wegfall von Sozialpädagogen, die auf den Umgang mit lernschwache Schüler spezialisiert sind - und nicht zuletzt das Brandmarken schlechterer Schüler, kritisiert Refalo.

Und zieht daraus seine ganz eigenen Konsequenzen: Er weigerte sich, den angeordneten Nachhilfeunterricht zu geben. Stattdessen organisiert er seit Anfang letzten Jahres einen Theaterkurs nicht nur mit den Lernschwachen, sondern mit der ganzen Klasse.

In seinem Blog ruft er seine Kollegen auf, ihrem jeweiligen Schulrat in einem Brief ihren Ungehorsam zu erklären. Anfangs waren es gerade einmal eine Handvoll Lehrer, die sich anschlossen. Heute zählen sich mehr als 2.500 Lehrer zu den "Ungehorsamen". Und Zehntausende weitere sympathisieren mit der Bewegung, und unterlaufen die staatlichen Vorschriften - allerdings ohne sich öffentlich zu bekennen.

Nun ist Widerstand an sich nichts Neues im französischen Schulwesen. Die Gewerkschaften organisieren Protest oft schon, bevor sie überhaupt mit der Regierung verhandeln. Egal ob die Lehrer politisch links oder rechts stehen: Die Bildungsminister sind immer auf den Widerstand der Gewerkschaften gestoßen, sobald sie an den alten Prinzipien der Schule "Unentgeltlich, laizistisch und obligatorisch" oder der Chancengleichheit rüttelten.

Aber Refalo und seine Mitstreiter organisieren eine andere Art des Widerstands. Zum ersten Mal weigern sich Beamte der staatlichen Schulbehörde, die Anweisungen ihrer Vorgesetzten zu befolgen. Obwohl ihnen deswegen Sanktionen drohen könnten. Und vor allem vollkommen unabhängig von den Gewerkschaften, deren ewige Streiks und "Aktionstage" sie als unwirksam erachten.

Darum ist es kein Wunder, dass diese neue Form des Protestes bei Gewerkschaften und Parteien auf wenig Begeisterung stößt. Im Januar 2009 bedauerte Refalo in seinem Blog, dass sich keiner der Anführer der Sozialistischen Partei dem Widerstand der Lehrer anschließe.

Was allerdings nichts an seiner persönlichen Entschlossenheit ändert. So schreibt er: "Ich treffe diese Wahl in vollem Bewusstsein der Risiken, die ich eingehe". Finanzielle Einbußen hat er bereits: Seit Januar werden Refalo zwei Tage pro Woche vom Lohn abgezogen, ständig tauchen Kontrolleure der Schulbehörde auf.

Besonders gerne kommt der Schulrat, wenn Refalo seine Nachhilfestunden geben soll. Jedes Mal muss er feststellen, dass der "Ungehorsame" mit seinen Schülern Theater spielt. "Ich teile Ihnen mit", schreibt Refallo am 23. März 2009 an seinen Schulrat, "dass Ihre Anwesenheit in meiner Klasse von heute ab unerwünscht ist", eine Anwesenheit, die er als "moralische und professionelle Belästigung" bezeichnet.

Sechs Monate nach ihrem Start zeigt es sich, dass die Widerstandsbewegung der französischen Grundschullehrer der Regierung immer lästiger wird. So sehr, dass sie deren Ausmaß bewusst untertreibt: Im Radio France Inter befand der französische Bildungsminister Darcos, dass man viel zu viel von diesen 2.000 Lehrern spreche, dass man lieber über die 358.000 anderen sprechen solle, die jeden Tag ordentlich ihrem Beruf nachgingen.

Und um die Zahl der "Ungehorsamen" weiter zu verringern, sind die Schulräte inzwischen zu gewissen Kompromissen bereit. Zum Beispiel tolerieren sie einige der Ersatz-Arbeitsprojekte, die die "Ungehorsamen" als Alternative zu den umstrittenen zwei Stunden "pädagogischer Hilfe" vorschlagen.

Solange die Lehrer tatsächlich unterrichten, werden die Projekte nicht mehr sanktioniert. "Würde man vorschlagen, mit den Schülern einen Weinkeller anzulegen, würde die Regierung das auch akzeptieren!", spottete kürzlich eine Grundschullehrerin gegenüber der Zeitung Le Monde 2.

Ohne Refalos Blog, das die ganze Bewegung koordiniert, und die Internetseiten von den inzwischen eingesetzten lokalen Widerstandsgruppen wäre eine Auflehnung dieses Ausmaßes nicht möglich gewesen. Ihre Ausbreitung über ganz Frankreich enthüllt jedenfalls einen starken Handlungs- und Kommunikationsbedarf, ja eine richtige Begeisterung unter den Grundschullehrern für gemeinsame Aktionen.

Refalo füttert sein Blog mit theoretischen Artikeln zum Thema "ziviler Ungehorsam", mit Musterbriefen an Schulräte und Organisationsmaterial für die Bewegung. Vor allem aber ist sein Blog zu einem Forum für alle geworden, die sich positiv oder negativ über die Positionen und Aktionen von Alain Refalo äußern wollen.

Und über allem steht als Motto von Refalos Blog der schöne Gedanke des Dichters Georges Bernanos: "Es braucht viele undisziplinierte Menschen, um ein freies Volk zu schaffen."

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2 Kommentare

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  • AL
    Andre La

    Der Kommentar spiegelt die Situation besser wieder als der Bericht.

    Die vermeintlich hohen Ideale vieler franz. Lehrer sind blosse Phrase. Die regelmäßigen Aufrufe irgendwelche Streiks zu unterstützen - natürlich finden die nicht am Mittwoch, sondern zur Freude aller Eltern meist Wochenendnah statt - hängen mir als Vater zum Hals raus. Die Grundschullehrerin meines Sohnes ist irgendwie gewerkschaftlich aktiv, weshalb an einem der 4 Tage (Mittwochs ist für die kleinen Schulfrei) eine Vertretung engagiert wird. Die heeren Prinzipien von Liberté, Egalité, Fraternité wird hinsichtlich der Egalité zu Gleichmacherei statt zu Gleichheit.

     

    Aber das ist nur einer der vielen Widersprüche im Land: Der Staat macht für Viele fast alles falsch - personifiziert durch den Präsidenten - also raus auf die Strasse, aber es gibt wenige, die neben gegen etwas zu sein für etwas sind und sich etwa in irgendeiner ernstzunehmenden Oppositionspartei organisieren. Im Vergleich zwischen Kindergarten Partie socialiste mit dem Kindergarten SPD hat letzerer fast Doktoranden niveau. Die diversen Grünenparteien, die Daniel kohn-Benditt mal für die Eurowahlen endlich zusammengeführt hat lassen sich ideologisch zwischen der frühen Jutta Dithfurth und dem linken SED rand einordnen. Mit solchen Konzepten kann man halt nicht gegen den kleinen Nikolas anstinken.

    Und zuletzt: Das Zitat von Georges Bernanos: "Es braucht viele undisziplinierte Menschen, um ein freies Volk zu schaffen." passte sicher gut in seine Zeit, besse gefällt mir aber:

    „Seine Freude in der Freude des anderen finden können, das ist das Geheimnis des Glücks.“

    Ein schönes Motto für Lehrer!

  • V
    Vatereinerfranzoesischenschuelerin

    Kleiner Erlebnisbericht aus Frankreich, mit 9 jähriger Tochter, seit 4 Jahren hier in der Schule:

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    Die franzoesischen Schueler hatten bisher (und vermutlich selbst jetzt noch) die hoechste Anzahl an Lehrstunden pro Woche in ganz Europa. Und sie schnitten dennoch (oder gerade deshalb?) bei PISA nur sehr mittelmaessig ab. Konkret heisst das : Richtiger Schulunterricht ab 5 Jahre, von 8.30 – 16.30. Und danach noch Hausaufgaben. In manchen Regionen Frankreichs ist sogar samstags Unterricht. Auch wenn mittwochs fuer die ersten Klassen frei ist, die Kinder sind voellig ueberlastet.

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    In unserer Stadt (150000 Einwohner) gab es de facto bisher von der Schulbehoerde keinerlei Unterstuetzung fuer lernschwache Kinder, inklusive Migrantenkinder wie unserem. Die Sozialpaedagogen, von denen im Artikel die Rede ist, gab es de facto nicht. Dafuer gibt es aber in der Stadt > 30 „Orthophonisten“. Das sind Therapeuten, zu denen die Kinder dann vom Arzt geschickt werden, um den Schulstoff zu lernen – zusaetzlich zu den genannten Lehrstunden, zum Beispiel am freien Mittwoch. Oder die Kinder bleiben eben auf ihren schlechten Noten sitzen. All dies ist nach Logik von Herrn Refalo scheinbar nicht „brandmarkend“.

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    Dank des neuen Systems ist unsere Tochter jetzt „gebrandmarkt“: Sie erhaelt Unterstuetzung von ihren eigenen Lehrern, in der eigenen Schule, waehrend ihrer Schulzeit, zusammen mit ihren eigenen Klassenkameraden – zielgenau, da wo sie es braucht, so lange wie sie es braucht.

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    Das ist sicher in mancher Hinsicht chaotisch organisiert, und nebenbei wird Geld gespart. Beides kann zu Recht kritisiert werden. Das aendert nichts daran, dass das Allerschlimmste der alte status quo war.

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    Dieser status quo hat sich jetzt endlich deutlich gebessert - trotz und nicht wegen des zivilen Ungehorsams und der „résistance“ von Herrn Refalo. So sympathisch der Herr auch sein mag, und vor allem die Rolle, die er und andere Lehrer in diesem Stueck seit Jahrzehnten spielen.