Ein Hoch auf die neue Unübersichtlichkeit: Schluss mit dem Identitätsgewichse
Das Feuilleton diskutiert, ob wir wieder härtere Typen brauchen. Mit Standpunkten von vorgestern und unnötiger Verbissenheit. Der junge Mann hat seine Rolle verloren? Gut so!
Im Märchen war alles noch so einfach: Dornröschen schläft, der Prinz kommt, sie kriegt einen Kuss, zack, Hochzeit, zack, vergnügt leben bis ans Ende, zack, tot. Heute ist die Liebe komplizierter, die Rollen sind unklarer, das Ende ist ungewiss.
Das gefällt nicht allen. Der junge Mann von heute habe "seine Rolle verloren", klagte die Autorin Nina Pauer Anfang Januar in der Zeit. Er sei nur noch mit Selbstreflexion beschäftigt, kumpelmäßig weich. Das wirke auf die junge Frau von heute "schrecklich kompliziert" und "furchtbar unsexy".
Offenbar sprach der nicht eben neue Ruf nach neuen Machos viele an. Auf Spiegel Online stand sowohl, die "Optimier-Frauen" seien selber schuld, als auch, es sei gut, dass der Macker verschwunden sei. Die Welt erklärte, es sei ja immerhin "eher als Fortschritt zu begreifen", dass Männer heute eben nicht mehr glauben, jeder Frau in den Po kneifen zu dürfen. Danach folgten FAZ und NZZ, Blogs.
Leider dreht sich die Diskussion im Kreis. Pauer beklagt das Überhandnehmen eines neuen Typs. Und so ziemlich alle GegenrednerInnen fahren als Antwort wieder andere Typen auf: Optimier-Frauen, Alphamädchen, Macker und Röhrenhosenheinis. Einparkende Frauen, emotionale Frauen. Harte, weiche, mittelweiche Männer. Und zu jeder erwähnten Rolle tummeln sich hundert Onlinekommentare, in denen über ebendieses Idealbild gestöhnt wird.
Zweite Runde
Ein einziges Meine-Identität-ist-besser-als-deine-Gewichse. Warum nicht auch noch die polyamore schafschlachtende Großstadtindianerin oder den pansexuellen Korsettliebhaber? Deswegen sollte die Debatte nun in die zweite Runde gehen. Denn der Text von Nina Pauer hat einen wunden Punkt getroffen, an dem wir weitermachen können.
Die permanente Diskussion um die vermeintlich richtige Geschlechtsidentität ist spannend. Spätestens seit dem Einzug der Piratenpartei ins Berliner Abgeordnetenhaus berührt sie auch die sich für aufgeklärt und fortschrittlich haltende urbane Mittelschichtsjugend wieder. Die Piraten halten sich für "postgender" – was feministische Kritik provoziert. "Postgender" ist in einer sexistischen Gesellschaft wie der unsrigen nicht möglich, darüber wurde zuletzt nicht nur online viel diskutiert. Dieses zarte Diskurspflänzchen sollte weiter kultiviert werden. Schreibt mehr darüber.
Es geht um Männer und ihre Rolle, ganz basal auf der Beziehungsebene. Über diese Gefühlsverwirrungen wollen wir gerne lesen. Hauptsache, es wird nicht geschwiegen, denn geschwiegen wurde über dieses Thema in früheren, für manche besseren Zeiten viel zu viel, und dabei kam nichts heraus als Ungerechtes für all jene, die anders leben wollten als die Norm.
Und: Nur dadurch, dass so viele wie möglich offen sprechen, kann öffentlich werden, wie vielfältig das Lieben schon ist, wie überkommen die Sehnsucht nach dem Eintopf von früher.
Bislang wird die Diskussion allerdings auf vorgestrig heteronormative Art geführt. ("Der Mann" und "die Frau" finden nicht zueinander. Ja, wollen sie manchmal auch gar nicht.) Und dann noch: Das Ideal der romantischen Liebe, inzwischen ausgeleiert wie ein alter Spitzenschlüpfer. Alles wird nun wieder aufgefahren. Das ist zwar eigentlich super, denn die Themen Identität und Beziehung berühren fast ausnahmslos alle, und bekloppte Vorurteile und veraltete Lebensformen sollen bitte hinterfragt werden.
Doch mit bloßer Verunsicherung oder Wieder-zurück-Versicherung kommen wir zu gar nichts. Offenbar ist es heute immer noch nicht selbstverständlich, dass Menschen frei Schnauze sagen und zeigen, was sie denken und fühlen und sich nicht vorher überlegen, ob sich das für ihr Alter oder Geschlecht so gehört. Dabei könnten wir schon so viel weiter sein.
Wir müssten gar nicht verängstigt sein angesichts unklar werdender Rollen. Heute können wir im Hosenanzug Zigarillos rauchen und uns morgen die Federboa umwerfen, auch wenn wir nur Pfandflaschen wegbringen – oder auch nicht. Diese Freiheit haben sich vor allem GroßstädterInnen längst erkämpft – natürlich nicht ohne auch dort manchmal noch blöd angeschaut zu werden.
Und mit postmodernen, kulturpessimistischen Thesen à la "Alles wird beliebig" soll uns jetzt niemand kommen. Beziehungen werden vielfältiger, und das ist auch gut so. Es geht dabei um nichts weniger als die Frage der eigenen Freiheit.
Wie langweilig
Wenn Leute in der Politik der Parteien und Parlamente argumentieren, ihnen sei alles zu unübersichtlich, man brauche einfache Lösungen und früher sei es ohnehin besser gewesen, dann bezeichnet man sie im besten Fall als Populisten. Im schlechtesten erkennt man in ihnen Revanchisten oder Neonazis. Was hat diese Zurück-in-die-Zukunft-Perspektive in der wichtigen Diskussion darüber verloren, wie wir lieben?
Der junge Mann hat seine Rolle verloren? Gut so. Vorbilder sind toll, und Idealtypen wird es immer geben, aber die eine und einzige Mann- oder Frau-Variante? Wie langweilig und 50er-Jahre-mäßig ist das denn! "Anziehungskraft kommt erst durch Unterschied", heißt es in dem Zeit-Text. Mag sein, aber doch nicht durch festgelegte Stereotype. Abgesehen davon, dass "die junge Frau" eben auch lesbisch oder bi sein kann.
Variable Geschlechterrollen
Von den Homos gibt es in Sachen Geschlechtsidentitäten überhaupt viel zu lernen. In lesbischen Beziehungen gibt es häufig eine Rollenaufteilung in "Butch" und "Femme": Die Butch hat oft kurze Haare, ist eher hart, selbstbewusst, manchmal dominant. Die Femme hat eher weiblich konnotierte Merkmale, bis ins Divenhafte. Doch diese Einteilung ist fließend und änderbar, nichts muss, aber alles darf. Diese Lockerheit, dieses Spielen mit den Rollen würde allen, die an der neuen Unübersichtlichkeit leiden, sehr guttun.
Auch von der BDSM-Szene lässt sich lernen, wie variabel Geschlechterrollen in Beziehungen sein können – und dass Dominanz und Aktivität keinesfalls an Männlichkeit geknüpft sein müssen.
Verunsicherte Männer müssen heute nicht mehr entdeckt werden, die dürfen einfach da sein, sie dürfen auf der Suche sein. "Statt fordernd zu flirten, gibt er sich als einfühlsamer Freund", beschwert sich Nina Pauer über "den jungen Mann". Ja, dann nehme sie doch einen anderen! Niemand muss warten, bis der Strickjackenjunge kommt. Hier wird mit Projektionen gehadert.
Projiziert wird ohnehin viel zu viel. Aufs Internet zum Beispiel. Die Kulturpessimisten sehen dort die Liebe kaputtgehen. Im Internet gebe es Wunschpartner schon mit wenigen Klicks. Auswählen wie im Supermarkt, das Ende der Romantik.
Das wollen wir erst mal sehen, wie erfolgreich es ist, sich da nur von Eigenschaften und nicht von Körperlichem leiten zu lassen. Nein, bei der Partnersuche vollständig auf Online-Datingbörsen und Facebook zu setzen, ist futuristisch verwirrt: "Wer so tickt", schrieb einmal die Autorin Mely Kiyak, "ist kein Mensch, sondern eine Suchmaschine."
Und: Auch im Netz kann sich nicht jeder alles leisten. Liebe für alle, und zwar umsonst – das gibt es im Internet nicht – auch wenn Rainer Langhans das behauptet.
Im Frühjahr erscheint Kristina Schröders Buch "Danke, emanzipiert sind wir selber - Abschied vom Diktat der Rollenbilder". Darin wird die Ministerin die Argumente auf ihre ganz eigene, rechtsundogmatische Weise durcheinanderwirbeln. Die Fronten werden sich noch einmal neu sortieren, die Debatte wird die Feuilletons füllen.
Und bis dahin: Weiter diskutieren. Es ist schön. Nur bitte etwas ungezwungener, weniger auf der Suche nach dem einen einzigen Weg. Holt die Federboa und den Glitter raus! Die Gender-Trouble-Party geht weiter.
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