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■ Ein Gespräch im Hause Gauck über den abwesenden Herrn Müller. Auch über die verpaßte Katharsis des Volkes und den kleinen Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen wie zwischen männlichen und weiblichen Informellen MitarbeiterInnen.„Da möchte ich ein Dichter sein ...“

taz: Herr Gauck, ein immer wieder gemachter Vorwurf an Ihre Behörde zielt auf die Überschreitung Ihrer Kompetenz.

Gauck: Es gibt vereinzelt Personen, die gerichtlich festgestellt sehen wollen, daß ich bestimmte Dinge nicht sagen darf. Aber ich möchte weder den mit der Stasi Verstrickten noch sonst jemandem das Deutungsmonopol für die Unterlagen der Staatssicherheit überlassen sehen. In dieser Behörde gibt es Mitarbeiter, die sich insgesamt aus weit über hunderttausend Dokumenten informiert haben. Unser Wissen ist noch nicht so hoch wie das der früheren, am besten eingeweihten Stasi-Offiziere. Es ist aber sicherlich größer als das Wissen, dessen sich manche Anwaltskanzleien oder Redaktionen rühmen. Wenn nun unsere Arbeitsergebnisse entstellt und uminterpretiert werden oder unsere Recherchen mit politischen Motivationen unterlegt werden, dann müssen wir uns natürlich zur Wehr setzen.

Wo hört die Deutung auf und fängt die Bewertung an?

Wenn wir einen Vorgang finden, der von der Staatssicherheit über einen Inoffiziellen Mitarbeiter angelegt wurde, dann geben wir entsprechend Auskunft. Um eine Differenzierung in diesem Bereich der inoffiziellen Mitarbeit zu ermöglichen, teilen wir den Emfänger zusätzlich die Erkenntnisse mit, die wir bei der Aktenrecherche gewonnen haben. Etwa wie lange der Vorgang geführt wurde, ob es Geld oder Auszeichnungen gegeben hat, was die Motivation zu Beginn der IM-Tätigkeit war, und ob der Vorgang von der Stasi abgeschlossen wurde. Wir geben darüber hinaus Kopien über eine Verpflichtungserklärung oder einen Einstellungsbeschluß mit. Wir erklären aber immer: Das ist es, was wir derzeit in den Archiven vorfinden. Nun haben wir häufiger das Phänomen, daß sich Betroffene bei uns beschweren – statt bei sich selber oder ihren Stasi-Offizieren. Die Behörde kann keine Vergangenheiten neu erfinden.

Als das Gesetz vor über einem Jahr verabschiedet wurde, gab es Befürchtungen, daß Nachbar A seinen Nachbarn B erschlägt, nachdem er ihn in den Akten als Spitzel entdeckt hat. All das ist nicht eingetreten. Haben Sie nie damit gerechnet?

Als wir uns in der Volkskammer mit der Öffnung der Akten befaßten, hatten wir keinen Anlaß, derartiges zu erwarten — aufgrund der Erfahrungen der revolutionären Wende. Dort war sehr viel Wut auf der Straße – man kann aber auch von einer gewissen Aggressionshemmung sprechen, die neben ethischen Prinzipien auf der Straße gewaltet hat. Es war eine politische Vernunft, die sich aus ganz verschiedenen Motiven zusammengesetzt hat. Und das, obwohl die Staatssicherheit in dieser Zeit noch jede Kerze, die brannte, fotografiert hat. Deshalb waren wir überzeugt, es wird friedlich bleiben. Der Ruf der Wende „Stasi in die Produktion!“ ist ja auch später nicht durch „Stasi an den Galgen“ ersetzt worden.

Einige Rechtsintellektuelle der BRD haben durchaus bedauert, daß es nicht zu einer ordentlich kathartischen Reinigung per Volkszorn gekommen ist...

Ich kann das weder mit rein künstlerischen noch philosophischen Augen sehen und ganz abgehoben sagen: „Ein bißchen Blut ist vielleicht ganz nützlich.“ Ich kann auch nicht für die Verhältnisse beispielsweise in Rumänien sprechen, etwa beurteilen, ob der Tod des Diktators und seiner Frau einem noch aggressiveren Umgang mit den Verantwortlichen vorgebeugt hat. Und beim Thema Staatssicherheit wollte ich nicht im Sinne einer pressure group agieren: ich wollte verbindliche parlamentarische Mehrheiten herstellen.

Hannah Arendt hat nach einem Besuch in Westdeutschland 1950 geschrieben, das intellektuelle Klima erlaube nicht, „zwischen Tatsachen und Meinungen zu unterscheiden“. Beim Lesen überkommt einen der Eindruck, der Aufsatz sei von heute.

Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir laufen gegenwärtig Gefahr, daß Wissen durch Meinung ersetzt wird. Das geht bis in renommierte Medien hinein. Es gibt so etwas wie eine Wissensverweigerung wegen einer schon vorher stattgefundenen Meinungsbefestigung. Mich irritiert oft die Dürftigkeit der Argumentation, wenn Intellektuelle ins Betroffensein geraten. Den deutschen Intellektuellen scheint besonders die Fähigkeit auszuzeichnen, ins Reich des Geistes und der Fiktionsbildung abzuheben.

Die Westmedien übertreffen sich in Enthüllungen aller Art, die Ostmedien sind zurückhaltender.

Wenn der Eindruck erweckt wird, es gebe eine Mehrheit von Ostdeutschen, die dieses Thema fürchten müssen, dann trügt dieser. Wer soll hier vor wem Angst haben? Von mehr als 16 Millionen DDR-Bürgern haben etwa 150.000 als IM bei der Staatssicherheit gewirkt. Nicht einmal jedes SED- Mitglied war bereit, dem MfS konspirativ zu dienen. Was sich zur Zeit abspielt, läßt sich nur durch ein Bündel verschiedener Motive erklären, unter anderem durch die Sorge um die momentane eigene wirtschaftliche Lage. Wer Sorge trägt, zu kurz zu kommen, wird sich vielleicht keine Gedanken darüber machen, was ihm die Vergangenheit beschert hat. Wenn ich mich von einem Lehrstuhl verabschieden soll, auf dem ich lange gesessen habe und gut verdient habe und ich mich auch deshalb dort halten konnte, weil ich mit dem MfS konspiriert habe – dann habe ich jetzt etwas zu verlieren. Daraus folgt eine Interessenlage, die sich gegen die gegenwärtige Form der politischen Aufarbeitung auflehnt. Das trifft auch für die Belasteten zu, die möglicherweise sogar zu Recht sagen: „Ich habe aber niemandem geschadet.“ Man muß, von den Hochschulen bis zu den Kirchen, vergleichen: wie waren diese Personen in der sozialistischen Ellenbogengesellschaft im Vergleich zu denen gestellt, die Zusammenarbeit verweigert haben?

Heiner Müller begründet sein Schweigen über seine Gespräche mit der Staatssicherheit mit der „vergifteten Atmosphäre“ in unserer Aufarbeitungsgesellschaft.

Von Erich Loest beispielsweise, der ja von der Staatssicherheit observiert worden ist, habe ich diese Klage noch nicht gehört. Ich nehme Heiner Müller ab, daß das Leben für ihn zum großen Teil nur gestalterisches Material ist – wenn ich nicht erkennen muß, daß es doch Bereiche gibt, die bis heute schamvoll wie bei einem Biedermann verschwiegen wurden. Deshalb sind manche seiner Äußerungen heute entlarvender als die Dinge, die möglicherweise einmal in den Akten gestanden haben. Und was die „vergiftete Atmosphäre“ betrifft, so sind durchaus nicht nur Verdächtigungen oder Unterstellungen die Ursachen dafür – sondern auch Erinnerungsverweigerung, verstocktes oder verbissenes Schweigen, Lügen und Halbwahrheiten auf seiten der IM- Verstrickten.

Verlangen Sie nicht doch etwas zuviel? Niemand konnte mit dem Ende der DDR rechnen. Sich zu arrangieren bot doch für viele eine der wenigen Perspektiven, an denen sie sich festhalten konnten.

In der intellektuellen Debatte und in der öffentlichen Auseinandersetzung muß man doch benennen dürfen, was erwartet werden konnte und wo es vielleicht Fehlverhalten gab. Auch Begabte müssen gelegentlich Schuld auf sich nehmen – oder zumindest eingestehen, Fehler gemacht zu haben.

Nun hat der begabte Müller eine begabte Erklärung für sein Verhalten gefunden. Nämlich die, daß das Politbüro seinen intellektuellen Ansprüchen nicht genügen konnte und die Stasi-Mitarbeiter die besser Informierten waren.

Ich möchte Heiner Müller stärker an dem messen, was er als Schriftsteller geleistet hat, als an einer Äußerung, die aufgrund einer momentanen Drucksituation einen Grad an Verwirrung und Analyseunfähigkeit offenbart, den ich nur den Zuständen dieser Tage zuschreiben kann. Es sind doch nicht die Generäle zu Müller gegangen. Das waren doch subalterne Figuren. Und mit diesen will der intellektuelle Müller die große Einrede gehalten haben?

Was halten Sie von der Behandlung des Falles Müller, wenn man berücksichtigt, daß man gleichzeitig früheren Stasi-Offizieren wie Klaus Roßberg und Joachim Wiegand und anderen Respekt entgegenbringt? Und deren Respektabilität auch durch ihre Auftritte bei Gericht und vor Untersuchungsausschüssen unterstrichen wird?

Da möchte ich ein Dichter wie Müller sein, um die richtigen Worte zu finden. Ich kann nur sagen, mir mißfällt das. Noch merkwürdiger als das Schicksal dieser Stasi-Offiziere ist aber die sanfte Ruhe, derer sich die Mitglieder des Politbüros, des Zentralkomitees oder der Bezirkseinsatzleitungen erfreuen können. Für mich geht das nicht zusammen, daß Lothar de Maizière seinen Hut nehmen muß und die Mitglieder des Zentralkomitees in der Öffentlichkeit gar nicht mehr vorkommen.

Ihnen mißfällt, daß die Vergangenheitsbewältigung zur Zeit nur auf die Aufarbeitung der Staatssicherheit ausgerichtet ist?

Ich bedauere diese Verengung. Sie überfordert die Menschen. Das, was wir im Osten gelebt haben, hatte nur in Ausnahmefällen mit der Staatssicherheit zu tun, massiv aber mit Entfremdung und Unterdrückung zu tun. Damit, daß man aus einer Bevölkerung Untertanen gemacht hat – in Deutschland Ost seit 1933. Wir müssen uns aber auch an Dinge erinnern, die uns gelungen sind. Auch ein durchschnittlicher Feigling ist nicht nur Feigling gewesen. Im Kreis seiner Familie und unter Freunden war er Mitmensch und vielleicht zu Recht beliebt und geschätzt. All das gerät aus dem Blick, wenn wir nur darüber reden, wer was bei der Stasi gemacht hat.

Die Stasi war nicht das Zentrum der realsozialistischen Wirklichkeit. Alle fürchteten dieses Organ, aber das Zentrum war die SED, und auch dort gab es eine Oligarchie der Mächtigen. Die Bearbeitung der Vergangenheit mit einer Begrenzung auf die Stasi wird scheitern müssen.

Umgedreht könnte man daraus ableiten: Solange die politisch Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, ist es ungerecht, nur die kleinen Stasi- Spitzel zu verfolgen.

Es hat wohl einige Elemente der Ungerechtigkeit, aber die Umkehrung geht so nicht auf. Das politische Schwergewicht lag bei Verantwortlichen, deren Institution und Namen wir kennen. Wer das vergißt, ist entweder dumm oder böswillig. Trotzdem gibt es gute Gründe, sich mit den Menschen zu befassen, die entweder im oder mit dem MfS gearbeitet haben. Jeder kannte diejenigen, die als Parteikader oder Staatsfunktionäre tätig waren. Jeder konnte somit weitgehend selbständig entscheiden, ob er gegen sie opponieren oder mit ihnen gehen wollte. Nicht entscheiden konnte man sich gegenüber dem, der als Freund, Familienmitglied oder Kollege heimlich mit der Staatssicherheit kooperierte.

Überrascht es Sie, daß vergleichsweise wenige aus dem Westen mit der Stasi kooperiert haben?

So wenige waren das nicht. Denken sie nur an die Vielzahl der Spionageverfahren, die der Generalbundesanwalt eingeleitet hat. Dahinter verbergen sich IM-Vorgänge. Wenn ein West-IM aus der taz mit der Stasi gesprochen hat, dann war das Spionage. Viele der West-IM haben sich ruhig in ihre Sessel zurücklehnen können, weil die Unterlagen der Hauptverwaltung Aufklärung, die die meisten dieser Mitarbeiter geführt hat, vernichtet wurden. Mit einer zeitlichen Verzögerung und über die Akten der Betroffenen sowie die anderer Diensteinheiten wird jetzt das Leben für einige aber doch etwas unruhig. Es hat mich verblüfft, daß es offensichtlich auch im Westen für die Stasi nicht allzu schwierig war, Mitarbeiter zu bekommen.

Wie steht es mit der Geschlechterfrage bei den Informellen MitarbeiterInnen?

Die meisten mir bekannten IM- Fälle sind „männlich“. Es gibt so etwas wie eine „weibliche“ Verratsvariante, die ziemlich alt ist. Bei der „männlichen“ war die Stasi erfolgreich, wenn sie in die Persönlichkeitsstruktur der Menschen eindringen konnte. Oft war die Überschätzung eigener Möglichkeiten eine der Ursachen für eine Zusammenarbeit mit der Stasi.

Wie bei Sascha Anderson?

Anderson ist mir eigentlich nicht bedeutsam genug, um ihn zum Typus zu erheben. Es war nicht die Erpressung oder das Lokken mit Geld. Es war der Eingang in eine andere Tür des Gebäudes Mensch. Zum Beispiel politischer Idealismus oder in Aussicht gestellte Gestaltungsmöglichkeiten. Ich kenne schließlich auch die Tür, durch die man bei mir hereinkommt. Es gab aber immer noch die Möglichkeit, diese Pforte zu schließen – und das haben die Menschen oft aus Eitelkeit, Angst oder Selbstüberschätzung versäumt. Mit dieser Neigung, eigene Möglichkeiten zu überschätzen, assoziiere ich etwas Männliches.

Das Gespräch führten Henryk M. Broder, Wolfgang Gast und Elke Schmitter in der Gauck-Behörde, Berlin.

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