piwik no script img

■ Ein Beitrag zur ontodentologischen GeographieIm Goldenen Grund

Etwa 31 Kilometer nordwestlich von Königstein, wo einst Max Horkheimer über den Korrekturfahnen der „Dämmerung“ saß, liegen in weiter und auf Limburg zuführender Richtung ruckartig hintereinander weg die Örtlichkeiten Niederselters, Oberbrechen und Niederbrechen. Das macht strenggenommen nichts. Ab Limburg führen zahlreiche Wege nach Weilburg, Braunfels sowie gar Gießen und Marburg – über steinerne Brücken in Amalgamgrau und als silbrig glänzende Schotter- oder Gleisanlagen die mal zügig strömende, mal gurgelnde, bald auch sprotzelnde und schlonzende Lahn säumend.

Der Ackerbaulandschaft rund um Oberbrechen, Niederselters und Niederbrechen gab man den Namen Goldener Grund. Durch den Goldenen Grund führt die von Dränagen und Kanälen eingefaßte, abschnittsweise löcherübersäte Bundesstraße 8: für Optionen Wiesbaden, Mainz, ferner Koblenz, Saarbrücken, Mannheim und Konstanz sowie Olpe, Polen, Recklinghausen und Trier.

An der B 8 findet täglich ein reger Meinungsaustausch statt.

A: „Eh, du, sieh mal!“

B: „Aber was?“

A: „Ach, voder Kreissparkass' steht a neuer Geldautomat.“

B: „Na endlich. Dann könnese auch mol die Schulstraß uffpflastern.“

Hundert Meter weiter wartet Frau Q. Ihre Einkaufstasche ist prall gefüllt: zarter Schmelzkäse (37% Trockenfettmasse), 500 g rohes, noch blutendes Fleisch, 4* Jacobs-Krone (Landkaffee). Sie kommt, wie sie sagt, gerade aus dem „El Dorado Geschenkartikelmarkt“. Ihr Neffe habe Geburtstag und jetzt eine Spange („doch nich' im Haar, Sie!“) und es sei ja schwer, überhaupt was zu finden, Niederbrechen werde eben mehr und mehr dominiert von Autowerkstätten und Reifengeschäften, nicht mal Geld hätte man, um die Schulkinder mit Schülerlotsen gegen den bedrohlichen Fernlastverkehr zu verteidigen. Nein, früher war das schöner hier. Regelrecht in Fahrt, die Frau Q., denken wir heimlich, bohren aber nicht weiter. Gott sei Dank nestelt, ja, pusselt, schabt, kratzt und hakelt die rüstige Q. mittlerweile an einer rostigen Hosenklammer und schrubbt dann stumpf davon.

„Willkommen in Oberbrechen“, hatte uns ein Ortseingangsschild begrüßt. Nun gleiten wir die B 8 entlang und auf eine Staffelung von kittelweißen Häusern zu. Schneidezahnscharf heben sich reihenweise Dunstschwaden vom schwertblauen Sommerhimmel ab, rechts kleben zwei, links hinten unten fünf Wattebäusche und keinen lindernden Regen versprechende Wolkentupfer am Firmament. Streuobstwiesen und Laubholzgruppen wischen vorbei. In der Nähe des Abzweiges nach Hünfelden (8 km) macht die Kelterei Hoppe Anstalten.

Niederbrechen organisiert sich an einem steil aufschießenden Berg und läßt oben seine Burgturmruine sprechen. Efeu rankt und wurzelt allenthalben, 34 % der Wege sind sorgsam gekehrt. Eine Straße heißt Sackgasse, eine andere Rathausstraße, wieder eine andere, die Kirchplatz und Friedhof verbindet, heißt Marktstraße; dort finden wir eine gemütliche Backenstube.

Die Bevölkerung Niederbrechens kann kaum klagen. Man spricht von lediglich 19 % Fußfäule und 21 % Haarwuchs bei 100 % der 14 Jahre alten Niederbrechenern und Niederbrechenerinnen, deren Unterhaltungen, in der Amtmann-Finger-Straße belauscht, so gehen:

C: „Was meinstn du, woher kommt des dumme Wedder dees Jahr?“

D: „Komm, laß uns a Lischä holn beim Müller, dann hoggeman sich her.“

Knapp vor Ortsende Niederbrechen informiert ein Schild über „Kartoffelverkauf hier im Erdbeerfeld“. Für Kfz-Mechaniker sei Niederbrechen, hört man, wohin man blickt, eine regelrechte Geldader. So also auch hier, fast am Ortsausgang am Erdbeerfeld.

Was in beiden Gemeinden, in Niederbrechen wie in Oberbrechen, fehlt, ist ein Zahnarzt. Jürgen Roth

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen