: Ein Abend ganz in Schwarz-Rot-Gold
■ Im Bierzelt gegen England: Die Weltmeisterschafts-Super-Video-Fete am Stuttgarter Platz
Charlottenburg. Schon als kleiner Junge war ich nie ein Fußball-Freak. Nichtsdestotrotz geht es also am Mittwoch abend ins Festzelt am Stuttgarter Platz. Dort finde ich mich inmitten 350 jugendlicher Fußballbegeisterter vor einer „WM -Super-Video-Leinwand“ wieder. Meistgetragenes Kleidungsstück ist die deutsche Fahne, besonders en vogue im Moment offensichtlich als Lendenschurz. Das Make-up ist bei den Jungen und Mädchen gleichermaßen in kräftigen schwarz -rot-goldenen Tönen gehalten, so daß ich mir fehl am Platze vorkomme. Deshalb und um mich auf die folgenden 90 Minuten einzustimmen, folge ich dem mahnenden Zeigefinger Manfred Krugs und finde leicht die Abfüllstation. Da ertönt schon die deutsche Einheizhymne, doch viel zu leise, um mich herum zornige „Lauter, lauter„-Rufe. Die Veranstalter, selbst noch Teenager, geraten in leichte Panik. Schließlich erschallt die englische Hymne in angemessener Lautstärke, was allgemein jedoch mit lauten Buhrufen quittiert wird.
Anpfiff. In der 12. Minute schießt Häßler auf das englische Tor. Links vorbei. Ein nach unten gezogenes „Ohh“ hallt durch das Zelt. Hinter mir, in der Nähe der Tankstelle, rufen einige „Sieg, Sieg“. Ich nutze die Halbzeitpause, um in mir Platz für neuen Met zu schaffen, finde mich auf dem Örtchen jedoch in Konkurrenz mit den meisten meiner Geschlechtsgenossen. So verpasse ich doch tatsächlich das Tor von Brehme. Als dann das Undenkbare in der 81. Minute geschieht, bin ich wieder präsent, sofern dies mit vier Bier denn möglich ist. 1:1. Ich ertappe mich, wie ich tatsächlich so etwas wie Enttäuschung in mir verspüre. „Wir wollen auf den Ku'damm“, wird zu meiner Rechten trotzig skandiert. Auf dem Boulevard feiert dann später ganz Berlin, es knallen die Raketen. Jetzt ein Cabrio haben und mit flatternder Fahne am Kranzler vorbei... Plötzlich nähert sich mir ein Pulk fahnendrapierter Damen. „Wir sind die deutschen Huren“, höre ich von ferne. „Will'ste mal mitkommen?“
Marcus Fest
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