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Archiv-Artikel

Editorial

Deutschland als größter EU-Staat hat eine besondere Verantwortung

Die gute Nachricht ist: Angesichts der dramatischen Lage in Syrien und im Irak ist die Mehrheit der Deutschen dafür, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist eine knappe Mehrheit. Aber sie ist nicht nur bei Linken, Grünen und Sozialdemokraten zu finden, sondern – hauchdünn – auch bei den WählerInnen der Union. Und das bei steigenden Asylbewerberzahlen und vielen Kommunen, die nicht wissen, wie sie die Flüchtlinge unterbringen sollen. Diese kämpfen stärker als zuvor für ihre Rechte, viele Menschen reagieren hilfsbereit. Die Stimmung im Land ist längst nicht so feindselig wie Anfang der 90er Jahre.

Doch es gibt Kräfte, die Ressentiments schüren. Die AfD hat mit flüchtlingsfeindlichen Parolen drei Landtagswahlkämpfe erfolgreich bestritten. Und Teile der Union schüren mit. In Bezug auf die Roma hatten sie Erfolg. Die jüngste Asylrechtsverschärfung – die Einstufung dreier Balkanländer als „sichere Herkunftsstaaten“ – hat mit Unterstützung des grün-roten Baden-Württembergs den Bundesrat passiert. Und die nächste Reform, die auf die massive Ausweitung der Abschiebehaft hinausläuft, wird derzeit von der Großen Koalition beraten.

Gleichzeitig sind die Lebensbedingungen vieler Flüchtlinge in Deutschland besser geworden. Drei Schikanen wurden zum Teil abgemildert: das Verbot zu arbeiten, die Residenzpflicht und die unsägliche Praxis, Flüchtlingen Sozialleistungen deutlich unter Hartz-IV-Niveau zu zahlen.

Eine treibende Kraft dabei waren die Flüchtlinge selbst. Vor 20 Jahren schlossen Asylsuchende sich in Deutschland zum ersten Mal zusammen. Die Besetzung des Berliner Oranienplatzes, der die jüngste, radikalisierte Phase des Flüchtlingsprotests markiert, jährt sich am Wochenende zum zweiten Mal. Diese beiden Jahrestage fallen zusammen mit jenem der Tragödie von Lampedusa am 3. Oktober 2013, bei der 380 Menschen unweit der italienischen Mittelmeerinsel ertranken. „Die EU kann nicht akzeptieren, dass Tausende Menschen an ihren Grenzen sterben“, sagte der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, als er gemeinsam mit seiner Innenkommissarin vor den Särgen der eritreischen Flüchtlinge stand.

Doch genau das macht die EU weiterhin: Europas Bekenntnis zum Asylrecht bleibt verbunden mit der Weigerung, einen sicheren Zugang für Schutzsuchende einzurichten. Deutschland als größter EU-Staat trägt dafür in besonderer Weise Verantwortung. Die italienische Militärmission „Mare Nostrum“ war kein Ersatz für einen sicheren Weg nach Europa. Aber sie hat Zehntausende Leben gerettet. Doch nicht einmal daran hält die EU fest. Bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, sind dieses Jahr bereits mehr als 3.000 Flüchtlinge im Mittelmeer gestorben – mehr als jemals zuvor.

Anlässlich der drei Jahrestage blickt die taz in einem Dossier auf den Umgang mit Flüchtlingen – von Lampedusa bis ins badische Balingen. Und natürlich auf die Kämpfe der Flüchtlinge selbst.

CHRISTIAN JAKOB UND SABINE AM ORDE

➤ Das Meer der Hoffnung SEITE 2

➤ Hilfsbereitschaft in Balingen SEITE 3

➤ „Die Stimmung darf nicht kippen“, sagt der Chef des Amts für Migration SEITE 4

➤ Zweifellos unsicher: Eritrea SEITE 4

➤ Zweifelhaft sicher: Serbien SEITE 5

➤ Die Flüchtlingsproteste SEITE 6