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■ EditorialLiebe taz-Leserin,lieber taz-Leser

Wieder geht ein Gespenst um in Europa, und Ursache ist diesmal nicht die Ausbreitung, sondern das Ende des Kommunismus auf dem Kontinent: „Die Russen kommen“, heißt die klein- und gutbürgerliche Schreckensvision unserer Tage. Wenn sich am 1.Januar 1993 die Schlagbäume an den sowjetischen Grenzen öffnen, könnten innerhalb kürzester Zeit zehn bis zwanzig Millionen Russen nach Westen strömen. Was ist von solchen Prognosen zu halten? WORLD MEDIA hat eine Repräsentativumfrage in Auftrag gegeben – im Großraum Moskau, in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei. Das Ergebnis: 10% der befragten Russen und Russinnen überlegen sich, ins Ausland zu gehen. Bei den Tschechoslowaken sind es mehr, bei den Ungarn weniger. Sicherlich ist damit zu rechnen, daß von diesen schließlich nur ein kleinerer Teil das Risiko wagt, die Heimat aufzugeben und sich in einem fremden Kulturkreis niederzulassen. Aber verläßliche Prognosen gibt es nicht. Dennoch spiegelt sich in den Reaktionen auf die verschiedenen Zahlen eine – wenn auch verzerrte – Realität: die Angst vor einer immensen Mobilitätswelle, die Abwehr zuwandernder Menschen aus anderen Heimatländern ist weltweit ein zentrales Problem des ausgehenden 20.Jahrhunderts.

„Die neue Völkerwanderung“ ist Thema dieser zweiten Ausgabe von WORLD MEDIA. Wie schon in der ersten Nummer, die zu Weihnachten 1990 unter dem Titel „Die neue Welt- Unordnung“ erschienen ist, liefern wir Analysen, Interviews und differenzierte Weltkarten mit einer Vielzahl von Fakten und Zahlen. Material zum Nachdenken, zum Diskutieren, aber nicht ein neues Weltbild. Oder wie wir beim ersten Mal schrieben: „Karten und keinen Weltatlas“.

Schon in dieser Ausgabe konnten Sie Artikel zu den neuen Wanderungsbewegungen finden. Seitdem haben Migration und Flucht noch an Aktualität gewonnen. Nicht nur mit dem unlängst verabschiedeten Ausreisegesetz der Sowjetunion. Da ist zuallererst der Golfkrieg, mit der erzwungenen Rückwanderung von Arbeitsmigranten aus Irak und Kuwait und mit der Massenflucht der Kurden.

Einmal mehr haben uns die Ereignisse vor Augen geführt, daß die dramatischsten Bevölkerungsbewegungen heute nicht einmal bis Europa gelangen, sondern sich innerhalb der südlichen Kontinente abspielen, oft sogar innerhalb eines Staates: Millionen Menschen ziehen in den Drittwelt-Ländern vom Land in die Metropole, nach Mexiko-Stadt, Kairo oder Kalkutta. Für viele von ihnen ist es die Flucht ins Elend.

Andere können überhaupt nirgendwo hin. Etwa die Millionen Bangladeshis, deren Inseln periodisch überflutet werden und die keinen Platz finden, wo sie in Sicherheit sind. Es sei denn, sie würden sich als boat people der internationalen Wohltätigkeit anvertrauen. Auf die aber ist, wie viele andere Flüchtlinge von Äthiopien bis Guatemala erfahren mußten, längst nicht immer Verlaß.

Selbstverständlich finden Sie in WORLD MEDIA Beiträge zur dramatischen Entwicklung in der Dritten Welt, aber im Vordergrund dieser Ausgabe steht Europa und der Umgang mit der „neuen Völkerwanderung“ in diesem Teil der Welt. Die meisten Partnerzeitungen von WORLD MEDIA erscheinen hier. Die Probleme dieser Länder sollen sich auch im gemeinsamen Produkt wiederfinden – dazu haben alle Zeitungen mit ihren Autoren beigetragen. Vor allem haben wir den 1.Januar 1993 im Blick, den Tag, an dem die Europäische Gemeinschaft ihre Grenzen im Innern öffnen und nach außen umso fester schließen wird. In den verbleibenden eineinhalb Jahren wird um die künftige europäische Einwanderungspolitik gerungen werden. Es wird darum gehen, die wenigen Schlupflöcher, die für Flüchtlinge nach den Regeln der Genfer Konvention noch bleiben, nicht zu verstopfen.

Unter denen, die Einlaß fordern, sind heute allerdings zunehmend weniger politische Verfolgte und immer mehr Armutsflüchtlinge. Deshalb wird auch darum gerungen werden müssen, daß das Europa der Zwölf einer legitimen Zuwanderung aus Nordafrika ebenso wie aus dem östlichen Europa Raum gibt. Und es bräuchte eine Politik der EG, die darauf zielt, daß die Emigration nicht mehr für Millionen zum letzten Ausweg aus der Arbeitslosigkeit wird. Der Westen predigt zwar den Ländern des Südens und Ostens die Marktwirtschaft, bringt sie aber keineswegs so zum Funktionieren, daß auch für sie etwas vom wachsenden Reichtum der Nationen abfällt. Im Gegenteil. Für die Zukunft des östlichen Europas gibt längst das Beispiel Lateinamerika zu denken: Aus dem überschuldeten Kontinent fließt seit Jahren „Entwicklungshilfe“ in Form von Zinsen zehnmilliardenweise in die Industrieländer, statt in umgekehrter Richtung.

Schließlich ein noch genauerer Blick auf unsere engere Umgebung: In Deutschland – und nicht nur in den neuen Bundesländern – nimmt die Ausländerfeindlichkeit zu. In den Beiträgen von WORLD MEDIA finden wir diesen zivilisatorischen Rückschritt weltweit gespiegelt, von der Elfenbeinküste über Japan bis Frankreich. Die Zuwanderer zu „integrieren“, das hat sich herausgestellt, ist kein Allheilmittel gegen Konflikte. Auch der zweiten Generation der Emigranten muß eine eigene Identität zugestanden werden. Das eigentliche politische Problem sind ohnehin nicht die meist äußerst anpassungswilligen Söhne und Töchter der Zugewanderten. Es sind die Alteingesessenen, die umso mehr Anpassung fordern, je weniger es noch anzupassen gibt.

Dagegen gilt es eine neue Kultur zu setzen, die rund um das Mittelmeer eine – wenn auch verschüttete – Tradition hat: die eines Europa, das den Islam nicht als Gegner begreift, das von Afrika, dem Orient – und endlich auch von Osteuropa – zu lernen versteht. Die Migrationen der neunziger Jahre werden Teil unseres Alltags sein, die Herausforderung besteht darin, sie lebbar zu machen. Lebbar für alle Seiten.

Michael Rediske

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