■ Editorial: Geschichte in Osteuropa
Budapest 1956, Prag 1968. Die Morde von Katyn, die Prozesse Stalins... Als die Mauern fielen, öffneten sich auch die Archive, und die Toten der „weißen Flecken“ der Geschichte Osteuropas sollten nun endlich nicht länger totgeschiegen werden. Jahrezehntelang hatten die Revolten gegen das realsozialistische System das kollektive Bewußtsein mehrerer Generationen geprägt, nun nahmen ihre Anführer auf Ministersesseln Platz. Das „Gewissen der Nation“ erhielt die Präsidentenehre.
Dreieinhalb Jahre später ist nicht nur ihre Zeit abgelaufen. Auch die nun nach und nach erscheinenden wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten über die früheren Tabuthemen interessieren heute kaum einen mehr. Und doch wird die Geschichte nicht einfach der Zukunft geopfert. Im Gegenteil. Denn an die Stelle einer Geschichtsdiskussion, die bestimmt war von der Teilung der Welt in zwei Blöcke, erfolgt nun der Rückgriff auf Zeiten, in denen diese Teilung noch nicht existierte. An die Stelle der Geschichte der Opfer des allmächtigen großen Bruders Sowjetunion tritt nun die Suche nach der Geschichte der Sieger. Eine Geschichte, in der die kleinen Nationen Osteuropas nicht länger klein sein wollen und sich ihrer historischen Größe zu erinnern versuchen.
In der Tschechischen Republik streitet man über die Bedeutung der „Slawenapostel“ Kyrill und Method; Präsident Lech Walesa setzt alles daran, sich als zweiter Marschall Pilsudski – Polens starker Mann zwischen zwei Weltkriegen – zu präsentieren; in Rumänien ist mit dem Versuch der Rehabilitierung von Diktator Antonescu auch Hitlers „Mein Kampf“ zum Bestseller geworden. In Rußland aber endet die Geschichte von nun an im Jahre 1917, wird die Stätte der Hinrichtung der Zarenfamilie zum Wallfahrtsort.
In sechs Beiträgen, die sich mit der Situation in Rußland, Ungarn, Polen, Rumänien, der Ukraine und der Tschechischen Republik beschäftigen, soll an jedem Dienstag dieser neuen Bedeutung von Geschichte nachgegangen werden. In welchem Maße nationale Geschichte die nationale Identität in den Staaten Osteuropas prägt – auf diese Frage versucht eine abschließende Analyse Antwort zu geben. Die Serie kann beim taz-Archiv bestellt werden.
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