■ Eberhard Seidel-Pielen über den Rassismus und die Entwicklung der rechten Szene in Sachsen-Anhalt: „Die Verharmlosung ist pervers“
Im Auftrag von Bündnis 90/Die Grünen hat der Berliner Publizist Eberhard Seidel-Pielen 1992 die Szene untersucht.
taz: Warum hielten Bündnis 90/ Die Grünen es schon 1992 für nötig, sich die rechtsradikale Szene in Sachsen-Anhalt anzusehen?
Eberhard Seidel-Pielen: Sie waren über die Entwicklung beunruhigt. Es gab zahlreiche Überfälle, nicht nur auf Ausländer. In Halberstadt wurde 1990/91 über Monate zwischen Linken und Rechten ein regelrechter Krieg geführt. Auch in Halle gab es heftige Gefechte. Aber von offizieller Seite wurde die rechte und gewaltbereite Szene regelmäßig verharmlost.
War die Konfrontation zwischen Linken und Rechten schon vor der Wende angelegt?
Offensichtlich. Es gab sowohl in Halle als auch in Magdeburg starke linke und rechte Szenen. Konfliktpunkt und Angriffsziel waren oft Jugendclubs. Nach der Wende gab es in Magdeburg dann eine Serie von massiven Übergriffen übelster Natur von einer Gruppe von 50 bis 80 Nazis, Skinheads, Faschos und Hooligans auf einen Jugendclub in Neu-Olvenstedt, einer Trabantensiedlung, in der mittlerweile jeder vierte Magdeburger Jugendliche lebt.
Die Mischung der Rechten ist ungewöhnlich.
Stimmt. Die Gruppen waren auch nicht permanent zusammen. Aber es gab Aktionseinheiten. Die Mischung war so bunt, daß Anfang 1992 der Anführer der Hooligans in Magdeburg ein Afrodeutscher war, der sich kräftig an den Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendgangs beteiligt hat.
Wie hoch ist das Gewaltpotential bei diesen Gruppen?
Sehr hoch. Ich hab' mit Studenten aus Kamerun gesprochen, die nach Einbruch der Dunkelheit in Magdeburg nicht mehr mit der Straßenbahn gefahren sind, sondern nur noch mit dem Auto oder Taxi. Ein Schwarzer hat damals die Stadt verlassen, weil er zusammengeschlagen und mit Messerstichen verletzt worden ist.
Wie stark war 1992 die rechte Szene in der Stadt?
Rund 150 Leute, so wie heute.
Gibt es eine Verbindung zu organisierten Rechten?
Die Jugendlichen haben es natürlich abgestritten. Sie haben gesagt, daß sie früher einer Naziideologie nahegestanden hätten, aber dann wieder auf Distanz gegangen seien. 1992 ist keine Neonazigruppe offen in Magdeburg aufgetreten, aber es gab Flugblattaktionen von der NSDAP/AO, und es gab Agitationsversuche von zugereisten Rechten. Außerdem gab es Aktionseinheiten von Magdeburger und Braunschweiger Fascho- Skins.
Gibt es irgendeine Besonderheit der Magdeburger Szene?
Die Situation unterscheidet sich nicht von der in anderen Städten in den neuen Bundesländern, in Eberswalde oder Schwedt zum Beispiel. Aber in der offiziellen Stellungnahme des Landeskriminalamts in Sachsen-Anhalt hieß es noch 1992: „Im Hinblick auf die bundesweit erfaßten Gewaltstraftaten liegt das Land Sachsen-Anhalt im unteren Bereich der Straftatenhäufigkeit.“ Dabei lag die Wahrscheinlichkeit für einen in Sachsen-Anhalt lebenden Nichtdeutschen, Opfer von Übergriffen zu werden, zwanzigmal höher als in Nordrhein-Westfalen – dem Bundesland mit den zahlenmäßig meisten Übergriffen. Es gab 1991 in Sachsen-Anhalt 45 Überfälle mit Körperverletzung auf 20.000 Ausländer. Das ist ein Verhältnis von 1 zu 454. In NRW war das Verhältnis 1 zu 9.150. In den fünf neuen Bundesländern insgesamt war das Verhältnis 1 zu 892.
Mit welchen Zahlen hat das Landeskriminalamt seine Verharmlosungsstrategie unterstützt?
Es hat die Anzahl der Übergriffe auf die Gesamteinwohnerzahl bezogen – das übliche Verfahren – und verschwiegen, daß nur bestimmte Gruppen Ziel der Angriffe sind. Und das sind rivalisierende Jugendgangs und Ausländer. Dabei war die Bedrohung für die wenigen Ausländer in Sachsen- Anhalt wesentlich höher als anderswo.
Bei der Masse von Überfällen hätten die zuständigen Behörden also hervorragend informiert sein müssen, über ihre rechte Szene.
Es gibt in Magdeburg genügend Leute, die über die Szene informiert und schon 1991 auf die Gefahr hingewiesen haben.
Wie haben die offiziellen Stellen reagiert?
Zögerlich. Beim Überfall im Dezember 1991 auf den Jugendclub in Neu-Olvenstedt ist die Polizei erst aufgetaucht, nachdem die Rechten abgezogen sind. Sie hatte nebenan in einer Einbahnstraße abgewartet. Die rechte Szene ist damals schon mit CB-Funk und allen möglichen technischen Hilfsmitteln ausgerüstet gewesen.
Seit Anfang der 90er Jahre hätte die Polizei die Szene doch im Griff haben können.
Mit Sicherheit. Wenn die Täter am Himmelfahrtstag aus Magdeburg gekommen sind – und davon kann man ausgehen –, dann hätte die Polizei sie kennen müssen, und dann hätte so eine Aktion nicht im verborgenen vorbereitet werden können.
Der Chef des Magdeburger Ordnungsamtes hielt die Randale für „normal“.
Wenn er damit meint, daß es normal ist, daß es in Magdeburg seit Jahren immer wieder ganz üble Massenschlägereien und Randale und Übergriffe gibt, ist das richtig. Aber das auf diese Weise zu verharmlosen ist pervers.
Sympathisiert die Polizei mit den Rechten im Land?
Nicht generell. Aber es gab nachweisbar sehr zweifelhafte Reaktionen der Polizei, Sympathien mit den Rechten oder besonders harte Reaktionen gegen Linke. Außerdem gibt es immer wieder Einsatzleitungen vor Ort, die es an der nötigen Sensibilität und Qualifikation fehlen lassen. In den ersten Jahren nach der Wende wurde dies immer mit der Unkenntnis und Umstrukturierung der Polizei begründet. Damit dürfte man jetzt nicht mehr kommen.
Die Behörden in Magdeburg behaupten, daß sie in den letzten Jahren Gewaltprävention betrieben hätten.
1991 und 1992 sind in Sachsen- Anhalt viele Runde Tische entstanden nach dem Motto: Es geht um unsere Kinder. Sie haben sich allerdings nur um die Deeskalation zwischen den Jugendgangs gekümmert und es als Erfolg gefeiert, wenn sie sich nicht mehr gegenseitig die Köppe einschlugen. Aber das hieß natürlich nicht, daß Ausländer ohne Probleme durch die Städte gehen konnten. Die Angst selbst der Leute, die es gut meinten, bezog sich eben weniger auf die Gefährdung von Ausländern, als auf die ihrer eigenen Kinder. Interview: Bascha Mika
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